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Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)

Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)

Titel: Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarete Mitscherlich
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keine Angst. Angst sollte man ernst nehmen. Sie kann ein Seismograph für Gefahren und Gewalt sein. Sie kann uns vor dem Vergessen und dem Rückfall in nationalistische Selbstidealisierung warnen, vor der Verwandlung unseres Selbsthasses und unserer Aggressionen gegenüber Autoritäten in Fremdenhass und Antisemitismus, vor Gefahren, die uns nicht nur von der Außenwelt, sondern vor allem auch von unserer Innenwelt her drohen.
    Kann eine langsam wachsende Sensibilität für brutale mitmenschliche Umgangsformen und falsche Ideale nicht Ausdruck dessen sein, dass mancher Deutscher – wie groß oder klein dieser Anteil der Deutschen auch immer sein mag – aus seiner Nazivergangenheit gelernt hat? Jedenfalls wurde in Deutschland noch nie so viel und so offen über diese Vergangenheit, über die von Deutschen angezettelten Weltkriege gesprochen, an Auschwitz, das Symbol wahnwitziger Vernichtung und Menschenverachtung, erinnert wie während des zweiten Golfkriegs und seither, zumindest in Westdeutschland. Im Osten gab es neben der Kriegsangst wohl zu viele andere, unmittelbarer bedrückende Sorgen.
    Insgesamt scheint mir, dass viele Menschen in Ost und West hellhöriger für die Unheiligkeit »heiliger« oder »gerechter« Kriege geworden sind. Auf die Verlagerung eigener Konflikte nach außen durch Staatsmänner und Politiker fallen sie so leicht nicht mehr herein. Wenn also »harte deutsche Männer«, »siegreiche Soldaten«, »Kriegskameraderie« heute keine Ideale mehr sind, wenn sogar Männer ihre Angst offen zugeben können, spricht das doch dafür, dass wir – insbesondere der »deutsche Mann« – aufrichtiger und nüchterner geworden sind, also weniger »deutsch« im traditionellen Sinn. Auch Angst, die zu fühlen wir uns erlauben, kann uns vor der Anpassung an kollektive Vorurteile schützen und individuelle Verantwortung fördern.
    Vor Illusionen über unsere nationale »Reife« sei dennoch gewarnt. Es gibt noch mehr als genug Jugendliche wie ältere Landsleute, Männer wie Frauen, die heute wie gestern auf Sündenbocksuche aus sind, die aufgrund ihrer Verdrängungen und Projektionen die Wirklichkeit nur verzerrt wahrnehmen können. Die Fremdenfeindlichkeit wächst wie üblich insbesondere dort, wo es die wenigsten Fremden gibt.
    Nachdem das Buch Die Unfähigkeit zu trauern 1992 im Leipziger Reclam-Verlag erschienen war, beklagten sich junge Menschen der ehemaligen DDR bei mir darüber, dass sie zu Trauer nicht fähig seien, weil der real existierende Sozialismus unterband, die Liebe der Deutschen zu Hitler und seiner Gefolgschaft offen zu bekennen. »Kann ein Mensch trauern, wenn er einer Kritik des von ihm Geliebten ausgesetzt ist? Vielleicht ist es notwendig, Hitler irgendwo ein Grab zu gestatten. Was ist mit dessen körperlichen Überresten geschehen? Wo sind die Gräber von Goebbels, der Frau, allen Kindern, von Himmler? Was geschah mit den Toten der Nürnberger Prozesse, wurden sie anonym verscharrt?« So oder ähnlich war der Tenor mancher Briefe, die ich erhielt. Wir sind natürlich entsetzt, wenn wir so ungebrochen mit dem Bedürfnis konfrontiert sind, die Trauer um die Massenmörder von damals herbeizuführen. Hitler und seine furchtbaren Ideale, die wiedergaben, was die große Masse der Deutschen dachte und wünschte, können also nur aufhören, in den Köpfen und Herzen junger Menschen weiterzuleben, wenn die Trauer um sie nachvollzogen wird? Schlimmstenfalls wollen junge Leute aus den neuen und bekanntlich auch aus den alten Bundesländern um die Idole der Nazis trauern und nicht um die eigenen Toten, nicht um die von den Nazideutschen Ermordeten, nicht um den Verfall eines Kulturvolkes zu einem Volk von Verbrechern, das sich als arische Herrenmenschen allen anderen Völkern überlegen fühlte. Wie lassen sich diese uns befremdenden Bedürfnisse verstehen?
    Männer und Frauen aus der Ex-DDR, mit denen ich über unsere gemeinsame Nazivergangenheit sprach, wollten zwar nicht unbedingt um Hitler, seine Komplizen und Mitläufer sowie deren »Ideale« trauern, fanden es aber absurd, sich noch an etwas erinnern zu sollen, was fünfzig Jahre zurücklag. Es gebe andere Sorgen. Die Nazizeit hätten sie ein für allemal hinter sich gebracht, auch hätte es damals manches Gute gegeben. Sie wollten wenig davon wissen, dass nun einmal auch die heutigen Deutschen Beteiligte oder Nachkommen des Hitler’schen Wahns sind, die, wenn nicht direkt, so doch indirekt in den millionenfachen Mord und seine seelischen

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