Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)
Betrauern des gemeinsamen Verlusts von »Idealen« handeln, d.h. des Verlusts eigener und kollektiver Werte. Verloren gingen Menschlichkeit, das Fühlen für andere als andere schlechthin, ein Verlust, der uns unfähig machte, uns mit den Opfern zu identifizieren und sie zu schützen.
Es gibt also viele Arten des Verlusts und des Trauerns um Verluste: Trauer um die versäumte Trauer, Trauer um sich selbst, weil wir nicht trauern konnten, Trauer als Mitglied eines Kollektivs, Trauer um dessen »Idole« und Untaten, Trauer um die Opfer. Aber jedes Trauern setzt ein andauerndes Erinnern voraus und ist ohne Kritik und Selbstkritik, ohne Einfühlung in die Verlorenen oder das Verlorene nicht denkbar. Die Fähigkeit zu trauern bedeutet, die Fähigkeit zum Mitgefühl zurückzugewinnen, auch zum Mitgefühl mit sich selbst, was etwas anderes ist als Selbstmitleid.
Es ist, wie wir wissen, umso schwieriger, individuelle Trauer um einen Menschen, den wir geliebt haben, mit offener, unverdrängter Erinnerung zu verbinden, je verborgener uns die Ambivalenz dem oder der Verlorenen gegenüber geblieben ist. Je mehr diese Ambivalenz verdrängt wird, um so starrer muss die Idealisierung des oder der Verlorenen aufrechterhalten bleiben, um so eher geht die Trauer in Depression über. Das wird sich bei der kollektiven Unfähigkeit zu trauern ähnlich verhalten. Sich die tiefe Ambivalenz, ja den Hass auf Deutschland und manche seiner »Identitäten« und »Ideale« offen einzugestehen kann deswegen auch Befreiung von Selbsthass und die Entwicklung der Fähigkeit bedeuten, von falschen Idealen und Verhaltensweisen endgültig Abschied zu nehmen. Befreiende Wut könnte auch das Ergebnis einer erneuten Beschäftigung und Konfrontation mit dem insgeheim oder offen bis heute geliebten Hitler und den Naziidealen sein, wie es sich jene jungen Ex-DDRler wünschen. Insofern könnten ihre – zunächst absonderlich anmutenden – Bedürfnisse auch einen positiven Sinn haben.
Die Trauer um die vergangene Hitlerzeit ist, was uns selbst betrifft, bisher vor allem eine Trauer um den Verlust des eigenen Ich- oder Wir-Ideals, um den Verlust der eigenen und kollektiven Selbstachtung gewesen. Ich nehme an, so oder ähnlich werden auch viele Landsleute der Ex-DDR nach der Vereinigung empfinden. Denn nach der Wiedervereinigung wurde vieles in Frage gestellt, was bis dahin als richtig angesehen worden war. Im Osten ging nicht nur ein Gefühl von Sicherheit verloren, sondern auch das Gefühl, die Nazizeit eigentlich bewältigt zu haben. Trotz Diktatur war man der Meinung, soziale Ideale zu verwirklichen. Das Selbstwertgefühl derer im Osten baute auf der Überzeugung auf, mitmenschlicher miteinander umgegangen zu sein als die im Westen. Dieses Gefühl wurde ihnen genommen, und sie ließen es sich nehmen, denn sie sind im Grunde überzeugt, dass die Westler recht haben mit ihrem nicht besonders sozialen Kapitalismus und ihren nicht unbedingt christlichen Werten. Ein solcher Selbstwertverlust – sei es als Einzelner oder als Kollektiv – in der Folge der Vereinigung mit dem westlichen Teil Deutschlands ist unübersehbar, er muss wiederum verdrängt oder projiziert werden, damit er ertragen werden kann.
Trauerarbeit kann schmerzlich und befreiend zugleich sein. Mit ihrer Hilfe lernen wir, den anderen als anderen und gleichzeitig als Teil unserer selbst wahrzunehmen. Sofern es um kollektive Trauer geht, verringert sich hierdurch die Gefahr, dass unser Interesse nur darum kreist, eine deutsche »Identität« aufzubauen, ein neues deutsches Nationalgefühl zu entwickeln, zu Idealisierung als Abwehr gegen Selbsthass zu greifen, die Humanität zu verlieren, Auschwitz zu vergessen. Mit Hilfe des Trauerns brechen wir aus unserem selbstgemachten Gefängnis aus. Wir lernen, mehr Toleranz und Einfühlung uns und anderen gegenüber zu üben, und brauchen nicht dem Bedürfnis nach einer »Gesinnungssäuberung« zu verfallen. Letzteres ist keine Lösung für die Probleme, mit denen wir es seit der Vereinigung zu tun haben. Wir würden nur erneut verdrängen, das »Böse« außen sehen und dem Glauben verfallen, mit seiner äußerlichen Entledigung hätten wir uns auch innerlich von ihm befreit. Es gilt, sich mit sich selber auseinanderzusetzen und, wenn möglich, sich langsam besser zu ertragen.
Die Mauer war das sehr reale Symbol dafür, dass ein ganzes Volk im Gefängnis lebte. Man hatte zum Teil gar nicht so schlecht gelebt in diesem Gefängnis. Man hört von vielen
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