Eine magische Begegnung
die Bilder zu sehen waren, die während der Fahrt aufgenommen worden waren. “Schau, Dad, das sind wir! Können wir das Foto kaufen?”, rief Erika aufgeregt.
Der Schnappschuss zeigte Erika, wie sie mit weit aufgerissenem Mund und hochgerissenen Armen vor Vergnügen aufschrie. Lili war von der Seite fotografiert worden, wie sie sich gerade lächelnd umdrehte. Nach ihm umdrehte.
Dann erschien sein Bild auf dem Monitor.
“Deines sieht ja Scheiße aus, Dad. Das sollten wir besser nicht kaufen, glaube ich.”
Er vergaß, sie zu tadeln. Auf dem Foto hatte er zwar die Arme in die Luft gestreckt, doch sein Gesicht war … ausdruckslos. Als fühlte er überhaupt nichts.
Und genauso war es auch gewesen. Er hatte nichts empfunden. Jahrelang waren das Einzige, was er von Karen in Erinnerung gehabt hatte, der letzte Streit und das Telefongespräch danach gewesen. Er hatte nur Wut und Trauer empfunden, bis er schließlich alle Gedanken an sie verdrängt hatte, damit er nicht verrückt wurde. Danach hatte er alles andere vergessen. Die schönen Zeiten, die sie geteilt hatten, das erste Date am Boardwalk. Alles.
Erika zupfte ihn am Ärmel. “Dad?”
Wortlos drückte er ihr einen Geldschein in die Hand.
Lili legte ihre Hand auf seinen Arm. “Alles in Ordnung, Tanner? Du bist blass wie ein Laken und siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen. Dir ist auf der Achterbahn doch nicht schlecht geworden, oder?”
Doch, das war es. Er hatte selbst dafür gesorgt, dass es ihm schlecht ging. Zehn Jahre lang hatte er alles verdrängt, was gut gewesen war, und sich den schlechten Erinnerungen hingegeben. Er hatte sich von einer Affäre in die nächste gestürzt und hatte seiner Tochter kein einziges Mal eine dieser Frauen vorgestellt. Seine Beziehungen hatten nie länger als drei Monate gedauert, damit er sich alles Negative, alle Schwierigkeiten ersparte. Doch er hatte auch das Schöne nicht mehr gespürt – die Freude, die Euphorie, das Glück.
Bis er Lili getroffen hatte.
Ihr Haar war vom Fahrtwind zerzaust, ihre Wangen gerötet, und ihre Augen strahlten. Am Kinn war ein kleiner Schmutzfleck. Tanner wischte ihn weg.
“Nein, mir ist nicht schlecht”, sagte er und sah sie an. Er schien sie förmlich mit den Augen zu trinken.
Ein Kind rempelte Lili an. Er nahm ihren Arm und stützte sie.
Lass los, Tanner.
Er hatte losgelassen, und eine Weile war alles vollkommen gewesen.
Das Problem war, das alles Vollkommene einmal zu Ende ging. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er nicht wollte, dass die Zeit mit Lili jemals zu Ende ging.
Auf der Heimfahrt schwieg Tanner. Erika, die mit Lili hinten im Wagen saß, plapperte die ganze Zeit fröhlich vor sich hin. Nach dem aufregenden Tag würde sie sofort einschlafen, sobald sie im Bett lag.
Lili lauschte aufmerksam jedem ihrer Worte und lächelte. Nun ja, fast jedem ihrer Worte – wenn sie nicht gerade darüber nachdachte, was mit Tanner auf der Achterbahn geschehen war. Anfangs war er fröhlich und großzügig gewesen und hatte Erika jeden Wunsch erfüllt. Ab dem Augenblick, als die Achterbahnfahrt zu Ende gewesen war, hatte er abwesend gewirkt. Nur Erika hatte es geschafft, zu ihm durchzudringen, wenn auch nur für kurze Zeit. Danach hatte er sich wieder in sich zurückgezogen, als wäre er in Gedanken in einer anderen Welt.
Was beschäftigte ihn so sehr?
Das Auto bog in die Einfahrt ein. Die Reifen knirschten auf dem Kies, dann hielt der Wagen, und sie stiegen aus. Erika schlang ihre Arme um Lili und drückte sie. “Danke. Es hat so viel Spaß gemacht.” Dann umarmte sie Roscoe und schließlich ihren Vater. “Es war so schön.”
Fast schien es, als könnte sie nicht fassen, dass Tanner mit ihr in den Vergnügungspark gegangen war. Vielleicht hatte er es vorher noch nie getan.
Tanner sagte zum ersten Mal seit … oh, seit ungefähr einer Stunde wieder etwas. “Ich helfe Lili noch mit den Katzen.”
“Aber …”, erwiderte Erika.
Er legte ihr einen Finger auf den Mund. “Wir sind gleich wieder da”, ergänzte er. “Ich möchte nur sichergehen, dass bei ihr drüben nichts passiert ist, während wir weg waren.”
Im Gegensatz zu Tanner entging Lili Roscoes erstaunter Blick nicht, als sein Sohn sie durch die Hecke nach drüben zog.
“Wo ist dein Schlüssel?”
Sie zog den Schlüssel für die Hintertür aus der Tasche ihres Rocks und gab ihn ihm. Eine Handtasche hatte sie nicht mitgenommen, weil man sie auf den vielen Karussells so leicht verlieren
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