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Eine Messe für die Stadt Arras

Eine Messe für die Stadt Arras

Titel: Eine Messe für die Stadt Arras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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einem Dolchstoß entblößt, von dem die Welt bislang keine Vorstellung hat… Gervais der Damaszener ist zu uns gekommen und hat gesagt, daß der Jude Celus einen Fluch auf sein Haus und seine Wirtschaft geworfen hat. Vielleicht war es so, vielleicht auch nicht… Denn wo steht geschrieben, daß es Gott nicht erlaubt sei, einen Menschen damit zu bestrafen, indem er ihm das Pferd nimmt? Ich behaupte keinesfalls, daß Celus unschuldig war. Ich behaupte nur, daß es ebensogut ohne seinen Fluch hätte abgehen können. Gott braucht ganz und gar keinen jüdischen Gehilfen, wenn er Gerechtigkeit zumessen will. Als uns die Seuche traf, war Arras durchaus keine gute Stadt. Furchtbare Dinge haben sich hier zugetragen. Man hat im Rat gesagt, daß in Gent, Breda, ja vielleicht sogar in Paris die Sünden viel schwerer und nichtswürdiger sind, und doch waren wir es, die von der Seuche heimgesucht wurden. Aber hat der Rat das Recht, über fremde Sünden zu richten? Vielleicht gefällt es Gott, Brabant und alle anderen Länder des Herzogtums zu vernichten, um nur ein einziges kleines Dorf zu retten, so wie er es einst mit der Arche Noah gehalten hat? Rechnen wir unsere Sünden auf und suchen wir nach eigenen Maßstäben! Besinnt euch doch! Gab es hier in Arras vielleicht gar wenig Treulosigkeit, Geilheit, Dummheit? Erzählt man sich nicht in der Stadt, daß der Bäcker Mehoune Späne unters Mehl mischt und daß der Tuchmacher Yvonnet ein Leuteschinder ist für die Witwe Plaquet, die ihm in der Wirtschaft dient? Und haben sich nicht die besten unter euch – wie Graf de Saxe zum Beispiel – leichte Frauenzimmer aus England im Hause gehalten und sich Ausschweifungen hingegeben? Selbst mein innig geliebter Schüler hat sich vor den Augen der ganzen Stadt tierischen Begierden hingegeben. Möge also der Rat meine Worte erwägen! Ich aber sage euch, es ist leicht, auf jüdischen Nacken die Sünden zu bereuen, doch Gott muß das durchaus nicht wohlgefällig sein.«
    Tiefe Stille breitete sich im Saal aus, nachdem Albert geendet hatte. Der Abend war bereits hereingebrochen, hinter den Fenstern stand das Feuer der Häuser am Westtor, sonst nichts weiter… Da erhob sich der Bäcker Mehoune von der Bank, seine Gestalt warf auf der Wand einen großen Schatten.
    »Guter Vater«, sagte der Bäcker. »Ich habe schwer gesündigt, denn wahr ist es, daß ich Späne ins Mehl geschüttet habe. Ich kaufe hundert Messen bei der Allerheiligsten Dreifaltigkeit und lasse mir den Rücken peitschen an jedem Fasttag.«
    »Ein guter Christ mißt sich nicht selbst die Buße zu«, entgegnete Albert.
    Mehoune fiel auf die Knie und schluchzte laut.
    »Weine nicht«, sagte mit weicher Stimme der ehrwürdige Vater, »deine Stunde ist noch nicht gekommen. Steh auf, Mehoune, wir werden weiter zusammen zu Rate sitzen…«
    Also stand der Bäcker auf und setzte sich auf seinen Platz.
    Nicht zu fassen, wie leer unser Geist in jener Nacht war! Ich nehme an, daß jeder Mensch irgendwelche Lasten trägt und sie nicht allzu sehr spürt. Aber es kommt einmal der Augenblick, da ein Strohhalm auf seinen Schultern den Körper zur Erde beugt; sein Atem wird flach, Schweißtropfen rinnen ihm in die Augen, und all seine Wünsche münden in den einen kreatürlichen Wunsch nach Ruhe. Nur endlich diese Last abwerfen, sich aus dem Joch befreien! Wir besinnen uns dann nicht, daß es ein Strohhalm ist, der uns drückt, sondern uns dünkt, die ganze Erde, ja sogar der ganze Himmel ruhe auf unseren Schultern. Ein jeder schaut dann furchtsam um sich, wo er diese Last abwerfen könne, und da erspäht er den Nachbarn und zermalmt ihn reinen Herzens!
    Als Mehoune wieder Platz genommen hatte, blickten die anderen höhnisch und feindselig zu ihm hinüber. Jeder hätte am liebsten geweint, und nun hatte es Mehoune als erster getan – was immerhin dazu führte, daß die anderen ein wenig zu Ruhe und Besinnung kamen. Er hatte sie in der Demut überboten, aber sie waren ihm nicht dankbar dafür, vielmehr: sie waren dankbar und haßerfüllt zugleich.
    Mich schauderte, wenn ich an Alberts Worte über jenes englische Mädchen von damals dachte – als ich an dem Kommentar zu einer Schrift Meister Gersons arbeiten sollte. Ich sah in die Gesichter der Anwesenden, aber alle verzogen die Mäuler in demütigem Gebet. Ihr Flüstern, prasselnd wie ein vertrockneter Baum, wenn er verbrennt, erfüllte den Raum. Gott hatte in diesem Moment allerhand zu tun, um so viele Sünden gleichzeitig anzuhören. Und

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