Eine Messe für die Stadt Arras
und über allem wiegte der Ton der Glocken die Lüfte.
Gegen Abend trat der Rat zusammen. Albert begrüßte uns mit einem Kopfnicken. Ich hatte ihn den ganzen Tag über nicht zu Gesicht bekommen, und jetzt schien er mir seltsam matt und niedergeschlagen, als seien seit den frühen Morgenstunden Jahre vergangen. Nur in seinen Augen gewahrte ich ein Leuchten.
Albert sprach zu uns wie folgt:
»Der Rat möge mir Gehör schenken. Ich habe mir gedacht, daß ich mich euch anvertrauen müsse. Vor allem darum, weil der heutige Tag für Arras etwas Besonderes ist und sich niemals mehr wiederholen wird. Ich bin hochbetagt. Nach Arras bin ich aus dem fernen Süden gekommen, nicht so sehr, weil das Herz, sondern weil die Obrigkeit es mir befahl. Als ich zum erstenmal meinen Fuß ins Stadttor von Arras setzte, war ich blutjung, und ihr, die mir jetzt zuhört, waret Kinder. Und da habe ich nun mein Leben damit zugebracht, euch die christlichen Tugenden nahezubringen. Nur eines habe ich gewollt – daß die Stadt Gott wohlgefällig sei. Meine letzte Stunde ist nicht mehr fern, und es heißt fortgehen aus der Welt. Also habe ich heute morgen überdacht, was mir gelungen und was mir nicht gelungen ist. Ist Arras gegenwärtig besser als damals, da ich hier ankam? Was habt ihr dank meiner Belehrungen und meines demütigen Beispieles erlangt? Nun, man darf mir wohl zubilligen, daß ich euch den Glauben an Gott und seine Heiligen eingepflanzt habe. Unter meiner Obhut habt ihr euch einen schmalen Pfad zum Himmel gebahnt. Gewunden ist er, steinig und abschüssig. Es ist nicht leicht, ihn zu erklimmen. Da kommt es schon vor, daß ein Mensch abseits stehen bleibt, empor- und hinabschaut und sich darüber entsetzt, daß er erst ein so kurzes Stück zurückgelegt hat. Und er würde gerne umkehren. Denn leichter ist es, in der Tiefe zu leben als in der Höhe. In den Niederungen kann man all seinen Launen Folge leisten, während eine Bergersteigung nur an eines zu denken befiehlt – daran, daß man nicht abstürzt und in der Tiefe zerschellt. Ich sage euch, die ganze Welt hat sich gegen die Stadt verschworen; man neidet uns unser enges Verhältnis zu Gott und all die uns geschenkten Erfahrungen. Und eben darum murren die Leute bisweilen, wenn die Waren mit Serge nach Lilie oder Calais leer zu uns zurückkehren. In der weiten Welt scheint ihnen das Leben voller Freuden und Lockungen, die leicht zu befriedigen sind. In Arras hingegen erwartet sie ein neuerlicher verbissener Kampf um das ewig Heil. Daher sagen einige von euch: Was sollen uns die Lehren des guten Vater Albert, wo wir nur ein Leben haben! Andere gehen soweit wie möglich ihre eigenen Wege, und in der Todesstunde bereuen sie ihre Sünden und schließen die Augen in der Hoffnung, daß Gott ihnen verzeihen wird. Ja, so reden einige Bürger. Und sie begreifen nicht, daß der Teufel aus ihrem Munde spricht. Gestern haben wir Gericht gehalten über das Judengeschlecht. Aber was sehe ich? Die Bürger sind zur Überzeugung gelangt, daß sie sich der Gemeinde bedienen können, daß die Gemeinde alle im Himmel zusammengetragenen Schulden von Arras begleicht… Wahrhaftigen Gottes, es läßt sich nichts Dümmeres und Lachhafteres denken. Wo steckt das Böse, das die Stadt umtreibt? Der Bäcker Mehoune hat den Beweis geführt, daß es in den Juden steckt. Und ich widerspreche dem nicht! Aber sag, Mehoune, mein lieber Bruder, können wir, indem wir das jüdische Übel ausrotten, auch zugleich seine Wurzeln ausrotten, die in die christlichen Seelen hineingewachsen sind? Ist es recht, sich hinter einem Juden vor Gottes Antlitz zu verkriechen? Stellt das nicht den Versuch dar, zu betrügen oder mit Jesus Christus zu würfeln? Einige Bürger meinen, sie brauchten sich nur hinter den jüdischen Leichen zu verbergen, und schon erspäht sie das Auge des Allmächtigen nicht mehr. Arme Narren! Wenn sie Judenhäuser in Brand stecken, glauben sie, daß dieses Feuer wie das Fegefeuer ihre Seelen läutert. Die Angst leitet sie, um jeden Preis wollen sie dem gerechten Gericht entgehen. Diejenigen, die schuldig sind, verfolgen am heftigsten das Volk am Westtor. Ihr eigenes Unrecht wollen sie in Judenblut ertränken! Doch Gott vergibt keine herausgeschrienen, sondern nur wiedergutgemachte Sünden. Er gibt sich nicht mit dem Wort zufrieden, sondern verlangt Taten. Wir haben uns in Arras mit einer Mauer aus jüdischen Leibern umgeben, und jetzt meinen wir, in Sicherheit zu leben. Und dabei ist unsere Brust zu
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