Eine Messe für die Stadt Arras
wie sie beteten! Niemals zuvor hatte ich Menschen in einer solchen Ekstase gesehen. Als wenn ein ganzes Kartäuserkloster ins Rathaus geströmt wäre… Ich kannte sie! Besser als die eigenen Stuten und Hengste! Ach, es waren durchaus keine schlechten Menschen. Nicht schlechter als andere in Burgund. Nur daß sie sich plötzlich und ohne Vorbereitung zwischen Himmel und Erde verstrickt sahen. Wer von uns hätte in seinem Leben nichts Böses getan?
Im allgemeinen wissen die Menschen, wenn sie sündigen. Aber selten kommt ihnen in den Sinn, daß sie Prüfungen unterworfen werden könnten, von denen in der Schrift die Rede ist. Diese Dinge geschahen in uralter Zeit – oder vielleicht sind sie überhaupt nicht geschehen? Es hat dies keine größere Bedeutung. Ob Gott sich so oder so offenbart, ist schließlich nicht das Wichtigste. Der Glaube ist ein Teil der menschlichen, nicht der göttlichen Natur. Gott braucht an sich selber nicht zu glauben, nur wir schulden es ihm! Und folglich glaubten auch diese Leute ganz brav, daß sie tagaus tagein seine allertreuesten Schäflein wären. Sie handelten so, wie das gewöhnlich im Leben zu sein pflegt. Zwar wußten sie, daß die Stunde kommt, da man für eine jede Tat zu zahlen hat, aber sie ahnten nicht, daß das ausgerechnet in jener Nacht, im Rathaussaal, im Schein der verlöschenden Feuer geschehen sollte.
Die Kirche lehrt uns, daß wir weder Tag noch Stunde kennen, und eben weil wir sie nicht kennen, können wir Ruhe und ein Restchen Würde bewahren. Auf einmal stürzt ein solcher Augenblick auf uns herab – wir fühlen uns hilflos und betrogen. So war es auch damals… In der Stille des Rathauses hörte man nur das Flüstern der Gebetsklagen. Denn der Teufel, falls er zu diesem Zeitpunkt unter uns geweilt haben sollte, verhielt sich mucksmäuschenstill. Wer weiß, unter wessen Mantel er sich zusammengekauert hatte?
Ich beugte mich zu Albert und sagte:
»Vater, ich muß einmal aus dem Saal!«
Albert nickte zustimmend; so stand ich auf und ging hinaus, um Wasser aus dem Brunnen im Hof zu trinken.
Auf dem Hof war es kühl und stockfinster. Ich trank gierig, wobei ich fast das ganze Gesicht in den Zuber tauchte. Da berührte mich etwas am Arm. Ich drehte mich langsam um. Leere weit und breit. Also trank ich von neuem, denn es brannten mir die Eingeweide. Es war wohl die Angst vor Albert, dem Rat, der gesamten Stadt Arras. Da spürte ich wieder eine leichte Berührung am Arm. Ich ließ den Zuber fallen; er fiel an dem sich spannenden Hanfseil hinab, tief unten im Brunnen platschte das Wasser. Und wieder blicke ich in die Runde und sehe nichts. Nur der kaum wahrnehmbare Umriß der Rathausmauern. Auf einmal – ein Flüstern. Jemand haucht mir etwas ins Ohr, aber es sind unbekannte Ausdrücke, wie in einer fremden Sprache, mit der ich bisher noch nie in Berührung gekommen war.
»Wer da?« frage ich verstört. Und wieder plappert die Stimme fremde, unbekannte Worte, die heute zu wiederholen ich nicht mehr imstande wäre. Worte ohne Mund, Sprache ohne Sprechenden, Berührung ohne Hand, Teil ohne Ganzheit. Etwas versetzte mir einen Stoß vor die Brust, wie mit einer geballten Faust. Ich floh, schweißtriefend. Da spürte ich am Hinterteil einen Tritt mit einem beschuhten Fuß. Der Teufel trieb mich mit Fußtritten bis an die Schwelle des Rathaussaales. Ich stürzte hinein, alle Blicke richten sich auf mich, offenbar ist mein Gesicht totenbleich, der Blick geistesabwesend.
»Der Teufel im Rathaus!« schreie ich mit furchterregender Stimme und schlage mit letzter Anstrengung die Tür hinter mir zu. Alle stürzen auf die Knie, die Haare stehen ihnen zu Berge. Sogar Albert scheint beunruhigt. Er nähert sich der Tür und macht auf ihr das Zeichen des Kreuzes. Ich höre, wie er murmelt:
»Der Teufel im Rathaus… Der Teufel im Rathaus. Wer weiß!«
I M N AMEN DES V ATERS UND DES S OHNES UND DES H EILIGEN G EISTES. A MEN . Ihr Herren! Sogar jetzt, da ich mich an den Augenblick erinnere, wo ich Wasser auf dem Hof trank, fühle ich ein Ameisenkribbeln in meinen Knochen. Über Brügge steht die Sonne eines zeitigen Frühlings, ich sehe durchs Fenster ein breites Stück Wasser und auf dem Wasser ein Schiff mit gehißten Segeln. Eure Gesichter sind ruhig und honett, und zum Frühstück hattet ihr erlesene Putenpastete und Lammkeule. Ringsum scheint alles in Sattheit und Sicherheit eingeschläfert. Ich aber verspüre in diesem Moment wieder Durst, und bitte, gebt mir einen kühlen
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