Eine Messe für die Stadt Arras
Nacht entsetzlich schmerzte, und dieser Gedanke brachte mir wiederum Linderung. Wenn ich ob der Unvollkommenheit von Arras litt, dann hieß das doch, daß ich an ihr hing.
Beurteilt mich nicht allzu streng! Ich gehöre zu denen, die zumindest so vernünftig sind, das Gefühl der Dankbarkeit abschütteln zu können. Nicht darum liebte ich Arras, weil es mich kleidete, mir Speise und Trank gab und mir ein ordentliches Stück Macht in meine Hände gelegt hatte, sondern weil es unglücklich war. Wenn es so mit der Stadt stand, mußte man eben zusammen mit ihr die Träume erproben. Nicht Arras war schuld, sondern Gott!
»Jesus Christus!« schrie ich, und die Tränen liefen mir übers Gesicht. »Verschone diese Stadt. Schicke Arras nicht die große Sorge um die Zumessung von Gerechtigkeit herab; denn nichts ist furchtbarer als dieses Richten. Erlaube dieser Stadt, wie einst ihre Bildteppiche zu weben, Herden aufzuziehen und der Erlösung zu vertrauen. Wenn sie diesen Weg nehmen, auf dem die Scheiterhaufen lodern, wird das Feuer alle verzehren, weil das heiße Verlangen nach Rechtfertigung mächtiger ist als die Gier nach einer Frau. Christus, bewahre die Stadt Arras… Es sei denn, du willst sie zum Opfer deines Abscheus für das Menschengeschlecht machen. Doch in diesem Falle, gibt es da nicht tausendmal unwürdigere Menschen, Städte, Länder?«
Nachdem ich so gebetet hatte, meinte ich zu hören, wie Gott leise und sanft, so als spräche er zu einem launenhaften, törichten Kinde, sagte: »Woher die Gewißheit, daß die Stadt Sodom unwürdiger war? Lebte doch in ihr der Gerechte Lot!«
Nein, sagte ich mir – oder vielleicht redete auch der Teufel in meinem Herzen? –, ich werde nicht der Lot dieses Sodom sein. Ich bin stark genug, um Arras, doch nicht stark genug, um Gott tragen zu können.
In diesem Moment betraten Männer die Kirche, unter ihnen der Tuchmacher Yvonnet.
»Da ist ja Herr Jean!« rief er aus, als er mich auf Knien erblickte. »Wie das? Die Stadt bebt in ihren Grundfesten, Ihr aber verbergt Euch in der Kirche? Der gute Herr Albert hält Gericht über den Ältesten der Gemeinde. Es ist vonnöten, daß auch Ihr Euer Steinchen werft…«
So ging ich mit ihnen aufs Rathaus. Weder Graf de Saxe noch Herr de Vielle noch Herr Meugne waren anwesend. Als die Reihe an mich kam und man mich fragte, was meine Meinung sei, erwiderte ich mit fester Stimme:
»Schuldig!«
Und ich habe damit durchaus nicht gesündigt. Die Tugend der Treue kann sich nicht gegen das Heil kehren.
Doch kommen wir wieder zur Sache. Ich habe hier nicht über mich, sondern über die Stadt Arras und ihre Bewohner zu sprechen.
Es dämmerte schon, als das Urteil fiel. Ich ging hinaus auf den Markt und stieß dort auf den Vogt des Herrn de Saxe, der auf mich gewartet hatte. Er sagte leise: »Graf de Saxe bittet Euch zu einer Unterredung.«
»Was ist geschehen?« fragte ich.
»Das weiß ich nicht.«
Also gingen wir. In den Straßen trieben sich die Menschen herum. Dieser oder jener war, nach den furchtbaren Strapazen der Nacht, unter einer Regentraufe, im Hausflur oder auf den Kirchenstufen eingenickt. Vom Westtor wehte Brandgeruch herüber. Dort hatte man einige Häuser in Flammen aufgehen lassen. Unterwegs stießen wir auf zwei Grüppchen – erschöpft, in abgerissenen Kleidern. Der Vogt schloß die Augen. In seinem feisten Gesicht gewahrte ich einen Ausdruck von Furcht und Ekel. Als wir an Ort und Stelle waren, verschwand der Vogt sogleich.
Farias de Saxe erwartete mich im Garten. Eine hohe Mauer schützte seinen Besitz. Hier herrschte Stille, und die an diesem Tage kalte Luft schien hier lau und duftgeschwängert.
»Reitet zu Bischof David!« sprach Farias, während wir zwischen üppigem Strauchwerk einen schmalen Pfad entlang spazierten. »Das alles darf nicht ohne sein Wissen geschehen…«
»Die Stadt wünscht den Besuch des Bischofs nicht«, erwiderte ich.
Er schaute mich von unten her kummervoll an.
»Jean!« wiederholte er. »Mach dich auf nach Gent. So oder so, hier geht es um Hexerei. Ohne einen geistlichen Führer darf die Stadt keine Urteile fällen.«
»De Saxe, mein Freund«, sagte ich behutsam. »Wir haben hier unsere Rechte und Privilegien, die wir nicht der bischöflichen Habsucht opfern dürfen.«
»Wenn es um Gärten, um Vieh oder Getreide ginge, hättest du recht, Jean. Aber hier geht es um Seelen. Niemand hat der Stadt das Recht gegeben, in Sachen Hexerei oder Häresie Gerichtsurteile zu fällen…»
Ich
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