Eine Nacht, Markowitz
Bergen. Aber eines Abends, als Seev Feinberg weiter vom Durchbruch zu den jüdischen Ortschaften in Galiläa und den Heldentaten in der Küstenebene erzählte, verfinsterte sich das Gesicht des Jungen. Plötzlich erfasste er, dass alles schon getan war. Die feindlichen Truppen waren allesamt über die Landesgrenzen zurückgedrängt worden. Es war kein einziger Araber mehr übrig, den er mit bloßen Händen hätte niederringen können. Zwar hatten Zahal-Kämpfer noch vor nicht allzu langer Zeit ihr Leben im Krieg mit den Fedajin riskiert, aber auch dieser Krieg war vorbei, ohne dass er daran teilgenommen hatte. Am nächsten Tag marschierte er wütend zu dem verlassenen Dorf. Direkt hinter der Kaktushecke warfen sich Naama und Zwi hastig zu Boden, aber Jair blieb stehen. »Es ist sinnlos«, sagte er zu seinen konsternierten Kameraden. »Hier ist keiner. Kommt auch keiner. Kein Araber wird hierher zurückkehren.«
Und mit einem Schlag war der Zauber verflogen. Diese stillschweigende Lüge, die sie über viele Wochen hin geeint, sie mit Freude und Grauen erfüllt, sie zu Verschwörern gemacht hatte, zersprang in kleine Splitter. Das gefährliche Feindgebiet vor ihnen war nur eine Ansammlung zerstörter Häuser. Außer Kaktusstacheln gab es hier nichts, was ihnen Schaden zufügen konnte. Verlegen rappelten sich Naama und Zwi vom Boden auf, klopften sich mit zögernden Fingern den Staub von den Kleidern. Nun blickten sie Jair halb fragend, halb anklagend an: Und was jetzt?
Jair ignorierte die Frage und setzte sich breit auf den Boden, sein entspannter Körper signalisierte seine absolute Sicherheit, dass es an diesem Ort keine lebende Seele außer ihnen gab. Naama und Zwi setzten sich neben ihn. Lange sagte keiner ein Wort. In der lastenden Stille hörten sie beinah die Erde des Landes spotten – was sollten wohl ein asthmakranker Junge, ein Bengel mit Pfirsichduft und ein Mädchen, dessen Brustknospen sich trotz aller Verhüllungsmaßnahmen schon unter der Bluse abzeichneten, ausrichten? Große Kriege verlangen große Kämpfer. Die waren gekommen und hatten den Ruhm einkassiert, ohne Jair, Naama und Zwi irgendwas übrig zu lassen.
Jair Feinberg pflückte eine gelbe Kreuzkrautblüte und begann, sie in winzige Teilchen zu zerlegen. Niemals würde sein Vater ihn mit der ersehnten Anerkennung anschauen. Für immer und ewig würde er mit glasigen Augen von vergangenen Heldentaten erzählen. Zwi Markowitz riss einen unglücklichen Sauerkleestängel ab und begann, ihn zu zerpflücken. Es war aus. Heute Abend würden sie nach Hause gehen und danach nicht mehr durchs Wadi streifen. Die Moschawa würde wieder der Mittelpunkt ihrer Welt werden, samt ihren raunenden Stimmen und neugierigen Blicken und seinem Haus, in dem eine offene Wunde klaffte. Dabei liebte er doch dieses zerstörte, verlassene Dorf, so abgelegen, dass kaum etwas die Kaktushecke am Eingang durchdrang.
Naama betrachtete die beiden Jungs, die ihre Wut an den Wildblumen ausließen, zwei besiegte und hoffnungslose Krieger. Wie konnte man Jair so seiner Trübsal überlassen, die seinen Geruch noch schwerer machte, wie der Duft einer Frucht kurz vor der Fäulnis? Spontan stand sie auf und sprach ernst und entschlossen, ahmte so gut es ging Jairs Tonfall nach, wenn er sie beide zu einer neuen Operation anzufeuern suchte: »Auch wenn hier, in den Landesgrenzen, alles schon getan ist, gibt es doch noch andere Orte für Kühnheit und Heldentum.« Nun erzählte sie von dem Felsenpalast tief in der jordanischen Wüste, schöpfte aus ihrem Gedächtnis Einzelheiten, die sie in der Zeitung gelesen hatte, ergänzte weitere nötige Details aus der Fantasie. Gewiss, es seien schon vor ihnen Leute da gewesen, aber nicht viele. Der Weg sei schwierig, doch sie würden ihn meistern. Und wenn sie zurückkämen, würden alle die Kühnheit der israelischen Jugend erkennen.
Zwi und Jair starrten Naama mit offenen Mündern an. Sie kannten die Legenden: ein verborgenes rotes Reich inmitten der Wüste, hinter der Grenze. Ein Reich, in das sich nur wenige aufzumachen gewagt hatten und aus dem noch weniger zurückgekehrt waren. Schlug dieses goldhaarige Mädchen ihnen tatsächlich vor, diese Legende in ihrem Leben zu verwirklichen? Ja, genau das tat es, und der Vorschlag klang von Minute zu Minute faszinierender, durchführbarer. Schließlich waren sie bestens trainiert in langen Märschen, geübt im Tarnen, erfahren im Navigieren und im Mitführen von Proviant. Nach all den Hinterhalten
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