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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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seine Mutter wartete. So stand er erwartungsvoll da, ohne zu wissen, was er eigentlich erwartete. Noch keine vier Jahre alt, war er schon ein Meister im Warten. Die Gegenwart war für ihn nichts weiter als ein Korridor, den er auf dem Weg zu seinem wahren, unbekannten Ziel zu durchschreiten hatte. So übertrug Bella ihrem Sohn unbewusst dieselbe krankhafte Erwartungshaltung, die sie von Jugend an verfolgt hatte.
    An dem Tag, an dem Jakob Markowitz heimkehrte, bummelte Zwi einige Schritte hinter seiner Mutter her und betrachtete interessiert die Kriechtiere des Feldes. Er hatte längst gelernt, nicht zu stören in solchen Momenten, in denen seine Mutter von einer Seite zur anderen mäanderte, tonlos die Lippen bewegte und ihre schöne Stirn gedankenverloren in Falten legte. Bella stand am Rand des Feldes, bemüht, sich die Worte mit geflüsterten Beschwörungen gefügig zu machen, sie mit Versprechungen zu locken, aber vergeblich. Vor den offenen Augen erblickte sie nur reihenweise Buchstaben, und die waren und blieben störrisch. Doch dann sah sie durch die Buchstaben plötzlich eine Gestalt die Anhöhe herabkommen. Bella ließ die Gestalt ihres Weges ziehen, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verlieren. Aufrecht ging der Mann in der Ferne, geballte Kraft lag in seinem Gang. Das konnte unmöglich Jakob Markowitz sein. Bella umwarb wieder die hebräische Sprache, und als sie einige Minuten später merkte, dass die ihr heute partout nicht dienen wollte, drehte sie sich wütend um und kickte in die Erde. Dadurch brachte sie Verderben über einen kleinen Käfer, der seit einigen Minuten Zwis ganze Freude gewesen war. Aber der Junge weinte nicht. Er wusste, dass Käfer, so faszinierend sie auch sein mochten, nur ein billiger Ersatz waren, ein Zeitvertreib für die Minuten, in denen er die Augen nicht erwartungsvoll auf den Pfad von der Anhöhe richtete. Deshalb wandte er das Gesicht dem Pfad zu – und sah den Mann. Zwi drehte sich rasch nach seiner Mutter um, aber Bella ging bereits (ärgerlich über ihren Misserfolg, aber auch ein wenig belustigt) nach Hause. Na dann. Dieser Mann, der die Anhöhe herabkam, war sicher nicht das, was seine Mutter erwartete. Auch er würde an der Einfriedung vorbeigehen, wie alle anderen.
    Und doch sah er ihn näher kommen, und mit jedem Schritt des Mannes ging gewissermaßen ein Fensterchen in Zwis Brust auf, denn die Schritte erinnerten ihn an etwas, das er eigentlich gar nicht im Gedächtnis haben konnte, und als der Mann nur noch wenige Meter vom Zaun entfernt war, füllten sich Zwis Augen mit Tränen. Denn auch dieser Mann würde weitergehen, Käfer und Spielzeuge würden daran nichts ändern, da blieb nur Warten und Hoffen, eine Erwartung, deren Grund er gar nicht kannte, und die ihn doch zwang, jeden Tag diesen Pfad und diesen Hügel zu beobachten, den viele herabkamen, ohne dass je einer anhielt. Aber dann ging der Mann aufs Haus zu, und Zwi erwachte aus seiner Starre und rannte dem überraschten Jakob Markowitz in die Arme.
    Aus dem Innern des Hauses, durch die offene Tür, hörte Bella Zwis trommelnde Laufschritte. Von ihrem Standort aus konnte sie nicht sehen, was das Herz des Kindes fesselte. Sicher ein Vogel. Vielleicht eine Katze. Egal, wenn er reinkam, würde er jedenfalls zu Mittag essen müssen. Bella ging in die Küche und holte zwei Teller aus dem Schrank, und so stand sie denn mit zwei Tellern in Händen da, als Jakob Markowitz eintrat, ihren Sohn auf den Armen.
    Ein paar Tage später nannte das Kind ihn schon Papa. Jakob Markowitz war überrascht – nie hatte er dieses Wort dem Kleinen vorgesprochen, und von Bella dürfte er es doch wohl auch kaum gehört haben. Woher hatte der Junge dann also die Bezeichnung Papa, die jedes Mal ein Lachen auf Zwis Lippen zauberte und Jakob Markowitz kleine Hitzewellen durch den Körper jagte? Jakob Markowitz sagte zu Bella: »Sicher hat er es sich von einem der Dorfkinder abgehört.« Bella unterdrückte ein Nicken. Seit Jakob Markowitz zurück war, ließ sie ihr Gesicht zu einer elfenbeinernen Maske erstarren. Sogar bei Nacht blieb es starr. Und Zwi schlief immer kürzer. Kaum lag er im Bett, hörte man seine Füße schon wieder über den Boden trappeln, schnell hin zum Sofa, auf dem Jakob Markowitz nächtigte, nachgucken, dass er noch da war. Manchmal erwachte Jakob Markowitz mitten in der Nacht von den kleinen Händen, die fasziniert sein Gesicht betasteten. Jakob Markowitz’ völlig unauffälliges Gesicht, eine Physiognomie,

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