Eine Nacht wie Samt und Seide
wusste es besser, als einen Mann mit einem schönen Gesicht zu unterschätzen.
Sie starrte auf das Fenster; ihr Misstrauen wuchs. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Caxton das Fenster aus Versehen offen gelassen hatte.
Eine verstohlene Bewegung am anderen Ende des Gebäudes erregte ihre Aufmerksamkeit - ein Schatten, der gleich darauf mit dem nächsten Baum verschmolz. Sie schaute wieder zu dem offenen Fenster und blieb, wo sie war, mucksmäuschenstill und reglos, gleichmäßig atmend, mit der Nacht eins werdend.
Das offene Fenster war eine Falle. Aber war der Schatten, den sie gesehen hatte, Russ oder Caxton, der Wache hielt? Trotz seiner erlesenen Eleganz, wollte sie nicht ausschließen, dass er um Mitternacht zwischen den Büschen auf der Lauer lag, willig und bereit, einen Eindringling persönlich zu stellen; was er der Gesellschaft zeigte, war nur eine dünne Schicht Zivilisiertheit.
Sie strengte alle ihre Sinne an, spitzte ihre Ohren, um jedes noch so leise verräterische Geräusch zu vernehmen, jedes Knacken eines Astes, jedes Rascheln von Laub, und spähte auf der Suche nach einer Bewegung, einem Umriss durch die Dunkelheit.
Sie entdeckte schließlich eine Gestalt, die lautlos und heimlich in ihre Richtung schlich.
Mit wild durcheinanderschießenden Gedanken verharrte sie an Ort und Stelle. Wenn es Russ wäre, würde er erkennen, dass das offene Fenster eine Falle war?
Und selbst wenn, war er verzweifelt genug, tollkühn genug, es trotzdem zu versuchen?
Vollkommene Stille senkte sich über die Szenerie. Ihr Herzschlag klang ihr in den eigenen Ohren laut. Sie konnte den Mann nicht länger sehen oder hören. Die Minuten dehnten sich zur Ewigkeit. Ihre Augen begannen zu tränen; sie blinzelte.
Eine Gestalt erhob sich aus den Büschen, etwa fünfzehn Schritt vor ihr. Der Mann schritt rasch über die offene Fläche hinter dem Gebäude.
Pris fluchte. Der Mond spielte Verstecken mit den Wolken; es gab nicht genug Licht, um das Gesicht des Mannes zu erkennen, und seine Kleider saßen zu locker, um sicher zu sein.
Langsamer werdend blickte der Mann sich um, schob beide Hände in seine Taschen.
Da wusste Pris es.
Sie stand ebenfalls auf, öffnete den Mund, um ihren Zwillingsbruder zu rufen ...
Da löste sich ein anderer Mann - mit goldenem Haar - aus einem Versteck und kam auf Russ zugestürmt.
Pris keuchte, aber Russ hatte die Schritte des Mannes gehört und drehte sich bereits zu ihm um.
Russ holte mit dem Fuß aus und traf Caxtons Freund in die Rippen. Er taumelte zurück, dann aber stürzte er sich wild entschlossen erneut auf Russ.
Pris kannte Russ, schätzte, dass er den Kampf gewinnen würde, darum blieb sie in den Schatten und wartete, dass er davonlief.
Ein Fluch und eine plötzliche Bewegung rechts ließen sie sich in die Richtung drehen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Ein weiterer Mann hatte sich ein Stück entfernt im Wäldchen versteckt gehalten. Caxton. Unter Pris’ entsetztem Blick richtete er sich auf, um seinem Freund zu helfen, Russ zu überwältigen.
Ohne lange nachzudenken, wirbelte sie herum, sprang auf und brach durch die Zweige. Ein rascher Blick über die Schulter zeigte ihr, dass das Ablenkungsmanöver funktioniert hatte. Caxton war jäh stehen geblieben, auf halber Strecke zwischen dem vor dem offenen Fenster ringenden Paar und dem Wäldchen. Er starrte zu den Bäumen.
Ihr blieb der Bruchteil einer Sekunde, um zu entscheiden, ob sie etwas rufen sollte - irgendetwas, Russ würde ihre Stimme erkennen -, um ihren Bruder wissen zu lassen, dass sie hier war, in Newmarket, nicht in Irland. Aber Russ war voll und ganz mit Caxtons Freund beschäftigt. Der unerwartete Klang ihrer Stimme würde ihn zweifellos ablenken; zu wissen, dass sie in der Nähe war, verfolgt von Caxton ... am Ende tat Russ etwas Dummes und würde gefasst werden.
Caxton starrte immer noch hinter ihr her, unsicher, was er gesehen hatte. Mit fest zusammengepressten Lippen lief Pris hin und her, dann sah sie, wie seine fest geballten Fäuste sich entspannten. Er begann, in ihre Richtung zu laufen.
Sie drehte sich um und rannte fort.
Sie wusste, wo sie hinwollte. Sie sagte sich, dass das als Vorteil reichte. Er war schnell und wendig; sie konnte auf der Flucht zwischen den Bäumen schneller sein als er. Sobald sie ihr Pferd erreicht hatte, wäre sie in Sicherheit.
Er holte stetig auf.
Ihr Herz raste, ihr Atem ging schwer, ihre Lungen brannten, als sie endlich das schwache Licht vor sich sah,
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