Eine Nacht wie Samt und Seide
für das väterliche Gut hatten ihn reifen lassen. Wenn er sich jetzt versteckte, dann tat er das aus gutem Grund, nicht aus Übermut.
Dass Harkness auf sie geschossen hatte, vermutlich weil er gedacht hatte, dass sie Russ war, bewies nur, dass Russ noch in der Nähe war und noch nicht zu Schaden gekommen war. Aber wie Dillon ihr nachdrücklich klargemacht hatte, hatte Harkness geschossen, um zu töten. Bis letzte Nacht war es ihr gelungen, dieses Wissen zu verdrängen, es ihrem Vorstoß, das Abstammungsregister zu sehen, hintanzustellen.
Nachdem sie das Register gestern Nacht eingesehen hatte, nach allem, was Dillon ihr mitgeteilt hatte, konnte sie sich nicht länger vor der scheußlichen Wahrheit verstecken.
Dillon hatte recht, es war ein gefährliches Spiel.
Sie ließ sich seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen, hörte im Geiste seine Stimme und verzog das Gesicht. Dieses Spiel war gefährlich, aber nicht nur in einer Hinsicht.
Sie hatte sich mit ihm eingelassen, um an das Register heranzukommen, doch in Wahrheit hatten Russ’ Schwierigkeiten nur eine untergeordnete Rolle dabei gespielt, dass sie in Dillons Armen gelandet war. Doch jetzt, nachdem sie dort gelandet war -und zwar mehr als einmal -, würde ihre Beziehung mit Dillon die Sache nur schwieriger machen.
Letzte Nacht hatte sie etwas in seinen Augen gesehen, hatte etwas aus seinem Ton herausgehört, das ihren Argwohn weckte. Vielleicht lag es daran, dass sie mit Russ zusammen - einem Mann, von dem niemand sich einbildete, er gehörte ihm - die Älteste in der Familie war. Sie hatte sich schon in frühester Jugend gegen die Idee gewehrt, einem Mann zu gehören. Sie war kein bewegliches Gut, kein Besitz. Viele wollten sie so sehen; ihre Schönheit weckte die Begehrlichkeiten vieler Männer, wie für einen Kunstgegenstand. Sie war ein Werk der Natur, das sie haben wollten, in ihren Häusern sehen wollten und sich etwas darauf einbilden, dass sie es errungen hatten. Aber noch nicht einmal ihrem Vater »gehörte« sie, er konnte sie auch nicht kontrollieren, weil sie ihm niemals das Recht dazu eingeräumt hatte.
Aber Dillon ...
Sie seufzte noch tiefer und reckte sich unter der Decke. Sinnliche Erinnerungen wurden wach; sie schloss die Augen und konnte beinahe seine Hände auf sich und ihn in sich spüren.
Dann war da noch die Unsicherheit darüber, was er von ihr und ihren Gründen dachte, sich ihm hinzugeben.
Sie konnte es sich nicht leisten, von Gefühlen abgelenkt zu werden. Mit gerunzelter Stirn wandte sie sich in Gedanken dem zu, worüber sie danach gesprochen hatten. Dachten alle Männer wie er, dass eine Frau ihnen gehörte, sobald sie ihnen gewisse Freiheiten gestattet hatte?
Gab es da ein ungeschriebenes Gesetz, von dem nur sie noch nichts gehört hatte?
Mit einem empörten Schnauben öffnete sie die Augen und schlug die Decke zurück. Sie stand auf, zog ihr Nachthemd zurecht und ging zum Waschtisch.
Wenn Dillon glaubte, Rechte auf sie zu haben oder sie kontrollieren zu dürfen, dann würde er seinen Irrtum schnell genug erkennen. Inzwischen musste sie ihm alles erzählen und ihn um Hilfe bitten. Die Entscheidung war gefällt, und sie hatte nicht lange nachdenken müssen, um sie zu treffen.
Sie war in einer Sackgasse gelandet und hatte keine Ahnung, wie es weitergehen könnte, in welche Richtung sie sich wenden sollte, um ihren Zwillingsbruder zu finden. Und das blieb ihr Hauptziel. Sie hatte auf das Register vertraut, darauf gehofft, doch das hatte ihr nicht weitergeholfen. Dillon würde es wissen. Er würde helfen. Er war genau der Mann, dem sie alles anvertrauen konnte.
Von allem anderen einmal abgesehen, was sie in seinen Augen gelesen und in seiner Stimme letzte Nacht gehört hatte, wenn sie es ihm nicht bald sagte, dann würde er selbst handeln, wie es Männer seines Schlages gerne taten. Wenn er auf die Idee kam, sich an Eugenia zu wenden ...
Sie hatte niemandem davon erzählt, dass Harkness auf sie geschossen hatte. Falls Dillon Eugenia von den Gefahren berichtete, in deren Russ und sie selbst sich befanden, wäre ihre Tante entsetzt und würde gewiss darauf bestehen, dass sie mit einem Vertreter der Obrigkeit sprach.
In diesem Fall war, soweit sie das sagen konnte, Dillon diese »Obrigkeit«. Sie schuldete ihrer Tante viel und mochte sie aufrichtig gerne; es war nur richtig, dass sie Eugenia das Unbehagen ersparte, selbst mit Dillon zu reden.
Ihre Zofe hatte ihr schon Waschwasser gebracht; Pris spritzte sich etwas davon
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