Eine Nacht zum Sterben
zu leben und nicht zu existieren; wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Daher also Ihre Organisation, die Einwanderer illegal ins Land bringt?«
»Genau; nur war es nicht meine Organisation – sie gehörte Jacaud. Er brachte Menschen aller Nationalitäten über den Kanal. Westinder, Pakistanis, Afrikaner, Inder – warum also sollte man nicht auch Chinesen aus Hongkong unter die Passagiere mischen?«
Das war wirklich eine geniale Idee, und Chavasse nickte anerkennend. »Alle Achtung. Und Ho Tsen war also gar nicht der erste Passagier?«
»Wenn ich Ihnen sagen würde, wie viele Vorgänger er gehabt hat, würden Sie bestimmt sehr nachdenklich.«
Er lächelte triumphierend, und Chavasse hob die Schultern.
»Aber jetzt sind Sie doch erledigt und müssen von vorn anfangen. Ihre Bosse im Hauptquartier werden darüber nicht gerade in Jubelfreude ausbrechen.«
»Oh, das weiß ich nicht. Es hätte sowieso nicht ewig so weitergehen können, und schließlich bringe ich ja Sie mit. Das ist kein schlechter Tausch.«
Rossiter war anscheinend durch nichts aus der Fassung zu bringen. Da fiel Chavasse sein Gespräch mit Pater da Souza ein.
»Das hätte ich beinahe vergessen – ich habe eine Nachricht für Sie.« Er log überzeugend. »Von da Souza.«
Die Wirkung war erstaunlich. Rossiter war sichtlich verwirrt. »Pater da Souza?«
»Ja. Er hat eine kleine Gemeinde am Ostindienkai in London. Ich habe ihn besucht, als ich mir Informationen über Sie beschaffen wollte.«
»Wie geht es ihm?« Rossiter flüsterte nur noch.
»Gut. Ich soll Ihnen von ihm sagen, daß er Sie jeden Tag in seine Gebete einschließt. Er legte großen Wert darauf, daß ich Ihnen das ausrichte.«
Rossiter war bleich geworden, und er sagte verbissen: »Ich kann auf seine Gebete verzichten, verstehen Sie? Ich habe sie nie gebraucht, und ich werde sie auch in Zukunft nicht brauchen.«
Die Tür zum Schlafzimmer ging auf, und Famia kam herein. Sie trug einen Regenmantel und hatte einen Schal umgebunden; in einer Hand hielt sie einen kleinen Koffer. Sie schenkte Chavasse überhaupt keine Beachtung.
»Ich bin soweit. Soll ich den Koffer zum Schiff bringen?«
Für einen Augenblick sahen sich die beiden an, als seien sie allein auf dieser Welt; wie zwei Menschen, die hoffnungslos ineinander verliebt sind. Für Chavasse war das die interessanteste Entdeckung: Rossiters Gefühle für das Mädchen waren offensichtlich echt.
Er nahm sie beim Arm und führte sie zur Tür. »Ja. Du nimmst deinen Koffer mit aufs Schiff. Wir kommen später nach.«
Einer der Wächter hielt ihr die Tür auf. Sie ging an Chavasse vorbei und verließ das Zimmer. Der Wächter schloß die Tür, und Chavasse sagte betont langsam: »Wie haben Sie das gemacht? Haben Sie ihr was in den Tee getan?«
Rossiter zuckte zusammen. Sein Gesicht verzerrte sich. Blitzschnell griff er in die Tasche und zückte die Madonna. Es klickte, und die Klinge sprang heraus.
Chavasse beugte sich vor und hielt die Arme ausgestreckt; Rossiter konnte jeden Augenblick angreifen. Da ging die Tür auf. Ho Tsen kam herein.
»Eine Meinungsverschiedenheit?« fragte der Chinese.
Rossiter hatte es anscheinend die Sprache verschlagen; er machte ein Gesicht wie ein schuldbewußter Schüler, den der Lehrer beim Mogeln erwischt hatte.
Ho Tsens maskenhaftes Gesicht zeigte zum erstenmal eine Gefühlsregung; er verzog die Mundwinkel zu einem verächtlichen Grinsen. Er hielt die Hände auf dem Rücken, ging auf Chavasse zu, und als er dicht vor ihm stand, trat er ihm in den Magen.
Er traf genau auf den Punkt; der Mann beherrschte sein Karate. So viel konnte Chavasse noch denken, dann brach er zusammen.
Er drehte sich um sich selbst und prallte gegen die Wand. Dort blieb erregungslos liegen und konzentrierte sich mit aller Kraft darauf, bei Bewußtsein zu bleiben. Die Stimmen der Männer hörte er wie aus weiter Ferne; er verstand nicht, was sie sagten. Der Oberst hätte ihn durch den Tritt in die Hoden zu einem lebenslangen Krüppel machen können; aber er hatte nur in den Unterleib gezielt, und das offenbar in voller Absicht.
Chavasse hatte wenigstens noch vorher die Muskeln anspannen können. Ihm war entsetzlich übel, er hätte sich übergeben mögen; aber immerhin konnte er sich schon wieder bewegen, als ihn die beiden chinesischen Wächter aufhoben.
Er spielte den Bewußtlosen, ließ seine Beine schleifen und stöhnte leise vor sich hin. Sie trugen ihn die Treppe hinunter, durch die große Halle und stiegen dann
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