Eine naechtliche Begegnung
man ihm das Herz brach.
Lady Allenton kam näher, offenbar war sie der Meinung, das frisch vermählte Paar habe genügend Privatsphäre genossen. »Hatten Sie schon Gelegenheit, Mr Andreasson zu hören, meine Liebe? Ich hoffe, Lord Rushden ist nicht zu egoistisch und lässt sie an seinen Talenten teilhaben.«
»Noch nicht«, sagte Simon, bevor Nell den Mund aufmachen konnte. »Aber ich habe einen Künstler für unser Hochzeitsporträt im Kopf. Ein sehr ungewöhnliches Talent. Bei all der trügerischen Einfachheit seiner Farbpalette ist seine Pinselarbeit wirklich außergewöhnlich. Das Ergebnis ist von erstaunlicher Pracht.«
»Sie müssen mir unbedingt seinen Namen verraten«, sagte Lady Allenton.
Nell versuchte, das Geplänkel zu entschlüsseln. Die Musik spielte weiter, schmerzend wie eine Wunde, blau wie die Dämmerung im Herbst. Es war zu traurig, um es auf einer Party zu spielen. Zuzuhören war ein schreckliches Vergnügen, wie wenn man nach einem Marsch durch die bittere Kälte eine gefrorene Hand zu dicht ans Feuer hielt.
Aber Lady Allenton wollte mehr von ihrer Aufmerksamkeit. »Argos«, sagte sie, als sie näher rückte. »Mein Lieblingsstück von ihm. Bemerkenswert, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Nell sanft.
»Einige behaupten, er sei ein Misanthrop«, fuhr die Frau fort. »Aber ich glaube, es gibt einen anderen Grund für seine Zurückgezogenheit. Eine Krankheit vielleicht. Ein Mann, der solche Musik schreiben kann, muss ein sehr großes Herz haben, glauben Sie nicht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er die Welt verachtet.«
»Wer?«
»Argos«, sagte Lady Allenton. »Der Komponist dieses Stückes.«
»Aber das ist …«
»Ihr Geschmack«, sagte Simon und warf Nell einen so scharfen Blick zu, dass ihr Mund sofort wieder zuklappte, »ist wirklich hervorragend, Lady Allenton.«
Lady Allenton war stolz. »Ja, nun, ich verbringe einen guten Teil des Winters in Paris, wie Sie wissen. In so einer Stadt erfährt man unvergleichliche Bildung, wenn man nur gewillt ist zuzuhören.«
Nell starrte Simon an. Er ließ die Leute in dem Glauben, dass die Musik von jemand anderem war? Bisher war er ihr nicht besonders bescheiden vorgekommen, geschweige denn schüchtern.
Das Stück war vorbei. Es herrschte überwältigte Stille, die erst zögerlich, dann mit wachsender Begeisterung von Applaus durchbrochen wurde.
Klick, klick, klick
machten die Fächer der Ladys, die gegen Ringe und juwelenbesetzte Armbänder schlugen. Andreasson stand auf und verbeugte sich, die Stirn noch immer gerunzelt.
»Oh, haben wir die Darbietung verpasst?«, rief eine süße Stimme, und Simon ergriff Nells Oberarm, als müsste er sie aufrecht halten. Sie sah erschrocken zu ihm hoch und folgte dann der grimmigen Bewegung seines Kinns.
Das Erste, was sie hinter dem Kopf der Gastgeberin entdeckte, war ein großer, sehr dünner Mann, der sie mit offenem Entsetzen anstarrte.
Und dann erblickte sie das Mädchen neben ihm, eine zum Gruß erhobene Hand in der Luft gefroren. Lady Katherines Lächeln zerbröckelte, als sie Nell in die Augen sah.
»Oh, großartig! Ich hatte gehofft, Sie würden kommen«, sagte Lady Allenton.
14
Es gab sie wirklich.
Nell hätte Katherine Aubyn ewig zusehen können: wie sie sich bewegte, mit den Händen herumfuchtelte, mit etwas schriller Stimme sprach.
»Das kann einfach nicht wahr sein«, sagte Lady Katherine. »Was ist das für ein Schwindel?« Wütend schritt sie den Teppich in Lady Allentons Bibliothek auf und ab und trat dabei gegen ihre rostbraunen Röcke. Die Gastgeberin hatte ihnen äußerst beflissen und mit der größten Freude – für ihr
historisches Wiedersehen
, wie sie es nannte – einen Raum zur Verfügung gestellt.
Nell für ihren Teil stand steif neben einem Stuhl. Sie fühlte sich, als hätte ihr jemand eine Bratpfanne über den Kopf gezogen. Trotz aller Bemühungen konnte sie keinen anderen Gedanken fassen als:
Es gibt sie wirklich
. Was dumm war. Natürlich gab es sie wirklich. Hatte es je einen Zweifel gegeben?
Aber die Fotografie hatte sie nicht in all ihrer Lebendigkeit gezeigt.
Die Frau, die da auf dem Teppich hin und her lief, hätte Nells Doppelgängerin sein können.
Es kam ihr vor, als würde sie sich selbst beobachten.
Sie konnte nicht wegsehen, obwohl sie ihrerseits ebenfalls angestarrt wurde. Eine korpulente Lady, Katherines Anstandsdame, konnte die Augen nicht von ihr abwenden. Und der Vormund – ein zur Glatze neigender Mann mit näselnder Stimme, der Grimston
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