Eine private Affaere
wie Feinberg Holmes anstarrte. Feinberg mutmaßte, daß in diesem Verfahren mindestens ein Mensch noch verschlagener als er selbst war, und er hätte gern erfahren, wer dieser Mensch war. Ich stand abrupt auf und ging hinaus in die schmutzigen Straßen von London.
Ich war unruhig und hatte das Gefühl, ich müßte mich bewegen, auch wenn das bedeutete, daß ich den Urteilsspruch verpassen würde. Fast hätte ich der Versuchung nachgegeben, mit dem Joggen anzufangen. Doch statt dessen hastete ich, angetrieben durch das Adrenalin in meinen Adern, von Ort zu Ort.
Ich kam an einem Zeitungsplakat mit der Schlagzeile U RTEIL IM A NWALTSMORDPROZESS HEUTE VORBEI . Da ich mich auf nichts anderes als auf Daisy in ihrer Zelle konzentrieren konnte, tat ich ganz automatisch Dinge, die ich ein halbes Leben lang in diesem Teil von London getan hatte. Ich ging in ein winziges Café, wo man Espresso trinken konnte, wenn man bereit war, sich auf einen Hocker zu setzen, der so nahe an der Wand stand, daß man fast mit der Nase dagegenstieß. Ich las die Papiere in meiner Tasche noch einmal durch, obwohl ich den Wortlaut auswendig kannte. Eigentlich handelte es sich dabei um zwei getrennte Dokumente – um einen Brief an George Holmes und um eine Ausfertigung an Nigel Monkson, Esq. Q. C, Barrister. Ob so oder so, Daisy würde noch vor dem Abend freikommen. »Wichtiger Prozeß heute, Mr. Knight?« Der italienische Inhaber des Cafés, der mit Cockney-Akzent sprach, erfuhr immer gern alles, was in den Gerichten los war. Vielleicht hatte er die Zeitungen noch nicht gelesen. Vielleicht war er auch nur zurückhaltend.
»Ja, ja, ziemlich wichtig.«
Der Inhaber des Cafés bedachte mich mit einem merkwürdigen Blick, als ich ging. Erst ein paar Tage später fiel mir ein, daß ich meinen Kaffee nicht bezahlt hatte. Wenn die Ehrlichkeit eine Form der gesellschaftlichen Konditionierung ist, hatte das System in meinem Fall im großen und ganzen Erfolg gehabt.
Von der London Bridge aus sah ich nach Osten zum Tower, wo alles angefangen hatte. Doch jetzt war es kein herrlicher Morgen voller Versprechungen mehr, sondern später Nachmittag, und es begann zu nieseln. Lag es an mir oder an London, daß ich das Leben satt hatte? Ein ziemlich absurdes Gefühl unter den gegebenen Umständen. Mein plötzlich aufkeimender Zorn galt nicht Thirst oder Holmes oder Daisy oder mir selbst, sondern der ganzen Stadt. Verschiedene Menschen drückten es auf unterschiedliche Weise aus: In London sein Dasein zu fristen, bedeutet, in einem schwereren Element zu leben als im Wasser. Jede Bewegung, jede Anspannung der Muskeln, erfordert zusätzliche Anstrengungen, für die der menschliche Körper eigentlich nicht geschaffen ist. Irgendwann geben wir erschöpft auf und gesellen uns zu den anderen leeren Schatten, die auf den Straßen vorbeihasten, aus der U-Bahn und ins Büro, das Licht scheuend wie Vampire. In der Ferne schlug Big Ben drei Viertel.
Carlford lief auf dem Flur vor dem Number One Court auf und ab. Feinberg schäumte vor Wut. Beide sahen aus, als würden sie mich am liebsten umbringen. Nur George Holmes, der ein Stück von ihnen entfernt stand, nickte mir ein bißchen verlegen zu. Niemand hatte erwartet, daß die Geschworenen sich so viel Zeit nehmen würden, am allerwenigsten George. Dann tauchte plötzlich Monkson wie aus dem Nichts auf und spulte sein ganzes Repertoire an komisch-narzißtischen Gesten ab, als habe er seinen Zorn auf Carlford völlig vergessen. Ich mußte lächeln. Genau wie Daisy wollte er, daß alle ihn mochten, also kam er auf mich zu.
»Ich wollte Ihnen nur sagen … Ich hoffe, daß ich dieses Verfahren Ihrer Meinung nach fair geführt habe und daß Sie mir nicht böse sind.«
»Kein Problem, Nigel«, sagte ich. »Sie haben gute Arbeit geleistet.«
Er lächelte mich breit an, dann fiel ihm ein, daß er ein bedeutender Queen’s Counsel war, und er beschloß, sich mit seinem Junior zu beraten. Plötzlich rief der Gerichtsdiener uns wieder in den Gerichtssaal. Diesmal saß ich neben Feinberg, als die Geschworenen hereinmarschierten. Daisy wurde aus der Zelle geholt. Alle Frauen und ein paar von den Männern sahen sie streng an, als sie sich setzten.
»Sie wollten sie bestrafen«, flüsterte Feinberg triumphierend. »Sie haben sich so lang Zeit gelassen, um sie zu bestrafen.«
»Sind die Geschworenen zu einem Urteil gelangt?« fragte der Gerichtsdiener mit lauter Stimme. Die Sprecherin der Geschworenen bejahte.
»Und wie sieht Ihr
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