Eine riskante Affäre (German Edition)
Wahrscheinlich geschahen an diesem Morgen weitaus schlimmere Dinge irgendwo in London.
Jess ließ sie gewähren und den Hut auf einen der Tische fallen, die wohl zu diesem Zweck bereitstanden. Dann folgte sie dem Gang in den hinteren Teil des Hauses.
Standish war der Name von Kennetts Onkel, womit sie es jetzt ganz sicher wusste. Ich bin in Kennetts Haus. Das wäre also geklärt.
Um diese Tageszeit brauchte sie nur dem Geruch des Frühstücks zu folgen und hatte damit gute Chancen, auf jemanden zu stoßen. Die Tür war geschlossen. Ich weiß nie, ob man anklopft oder nicht. Bei diesen vornehmen Pinkeln herrschen etwa eine Million Regeln. Sie öffnete die Tür und trat ein.
Überall standen Tontöpfe. Ein großer Schrank mit einer Glasscheibe an der Vorderseite nahm den halben Raum in Beschlag. Er war voller dunkelbrauner Gefäße. Schlammfarbener Gefäße. Töpfe, in deren Seiten Muster geritzt waren. Altgriechische Gefäße mit Abbildungen von Menschen. Töpfe in Dreibeinständern und solche, die einfach nur herumlagen und ihre Bäuche zeigten. Töpfe, die zu viert oder fünft übereinandergestapelt waren. Reguläre Truppen aus Töpfen, deren Hilfstruppen man einberufen hatte.
Zwei alte Leute, ein Mann und eine Frau, saßen an einem ovalen Tisch vor dem Fenster, durch das sich das Licht über sie ergoss. Es waren gewöhnliche Leute. Der Mann steckte in einer braunen Wolljacke sowie einem schlaffen Halstuch und wirkte etwas unordentlich. Er hatte ein zerfurchtes Gesicht und wildes schwarzes Haar, das an den Schläfen allmählich ergraute. Die Frau war recht ordentlich gekleidet. Doch Modisches war nicht an ihr zu finden. Das Fenster hinter ihnen gewährte Einblick in einen munteren, hellen Garten, der von Gras überwuchert war. Auf dem Sheridan-Sideboard neben der Wand befand sich abgedecktes Silbergeschirr, auf dem ein Frühstück warm gehalten wurde.
Der Mann legte ein Buch zur Seite. Die Frau blickte von einer Zeitung hoch.
Dies mussten Kennetts Onkel und Tante sein, Standish und Eunice Ashton. Das alles stand in den Akten, die auf Jess’ Schreibtisch im Büro lagen. Sie hatten Kennett großgezogen, als sein Vater keinerlei Anstalten gemacht hatte, dies zu übernehmen. Es hieß, der alte Graf wäre nicht gerade erfreut gewesen, dass sein kleiner Ausrutscher bei seinem Bruder und seiner Schwägerin aufwachsen sollte. Man erzählte sich, Eunice Ashton hätte noch nie etwas darauf gegeben, was der Graf dachte.
Der alte Graf ging in Italien auf elende Weise einem langsamen Tod entgegen. Eine gerechte Strafe, diese besondere Krankheit.
In Whitechapel hatte schon jeder von Eunice Ashton gehört. Sie gewährte Frauen Unterschlupf, die in Schwierigkeiten steckten. Jeder Frau. Auch Dirnen, wobei es keine Rolle spielte, wem sie gehörten. Es hieß, sie würde sich auch dem leibhaftigen Teufel entgegenstellen. Selbst Lazarus ließ sie ungehindert durch sein Territorium ziehen.
Und hier waren sie … anständige Leute, die ein zivilisiertes Frühstück einnahmen. Wenn Sebastian Kennett Cinq war, würde sie diese kleine, behagliche Welt in ihre Einzelteile zerlegen.
»Gütiger Himmel, Kindchen, Sie sind ja wach!« Eunice Ashton streckte die Hand aus. »Kommen Sie. Kommen Sie.« Sie war keine sorgfältig erhaltene Schönheit. Ihr in Ehren gealtertes Gesicht glich einer Landschaft aus Falten und tiefen Furchen, dem einer Landfrau, die bei jedem Wetter draußen und alles andere als verweichlicht war. Die ruhigen Augen strahlten wie Juwelen. Die Freundlichkeit, die vom Gesicht dieser Frau ausging, war wie ein warmer Herd an einem eisigen Tag.
Ich werde Cinq an den Galgen bringen, und wahrscheinlich ist er ihr Neffe. Ganz gleich, was sie sind – anständig, nett, gescheit, fürsorglich – , es macht keinen Unterschied.
Sie wollte nicht mit ihnen reden. Wollte auch gar nicht in diesem Haus sein. Ihre Finger tasteten nach dem Türknauf in ihrem Rücken.
Schon war Eunice Ashton auf den Beinen. »Setzen Sie sich doch! Sie sehen noch sehr wackelig aus. Tut mir leid, dass ich nicht da war, als Sie aufgewacht sind. Ich habe etwas früher reingeschaut und angenommen, Sie würden noch eine ganze Weile schlafen. Na dann. Standish wird Ihnen einen Tee eingießen.« Die alte Frau war neben ihr und fasste sie an beiden Händen. »Ich habe keine Ahnung, ob Tee hilft, wenn man sich nicht so gut fühlt, aber er gibt einem etwas Warmes zum Festhalten. Ein Kätzchen würde es auch tun, doch leider haben wir im Augenblick keines.
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