Eine Rose im Winter
Nacht ohne das geringste Geräusch zu bewegen. Und es war vor allem in der Nacht, wenn ihre zitternde Unruhe wuchs. Plötzlich fand sie ihn in ihrem Zimmer, die nackte, ausdruckslose Maske auf sie gerichtet, ohne daß hinter ihrem schauerlichen, eingefrorenen Lächeln auch nur die Spur einer menschlichen Regung zu erkennen gewesen wäre. Obwohl die Tür zu ihrem Schlafzimmer ein kräftiges und massiv gebautes Schloß hatte, fand sie nicht den Mut, den Schlüssel herumzudrehen und damit gegen sein Verbot zu verstoßen. Sie befürchtete, ein solcher Entschluß, ihm so den Eintritt zu verwehren, würde unweigerlich seinen Zorn hervorrufen und ungewisse, schreckliche Vergeltungsmaßnahmen nach sich ziehen. So hatte sie keine andere Wahl, als sich mit seiner Gesellschaft abzufinden, ganz gleich, ob vollkommen unbekleidet, gerade mit dem Nötigsten versehen oder in prächtiger Kleidung. Sie mußte schnell erfahren, daß es keine Rolle spielte, ob Tessie bei ihr war. Eine leichte Bewegung seiner ledernen Hand genügte, um das Mädchen zu entlassen. Gehorsam würde es sich schnell entfernen und ihre Herrin mit den Launen des Herrn allein lassen.
War er im Zimmer, so litt Erienne unter quälender Ungewissheit. Seine Zusicherung ging nur so weit, wie er seine Leidenschaft im Zaume halten konnte. Überschritt er diese Grenze, so würde sie eines Tages widerwillig seine Wünsche erfüllen müssen. Ein Bild verfolgte sie, in dem sie vor ihm kauerte, geschüttelt von leidenschaftlichen Bitten, die ihre zitternden Lippen hervorstießen. Die Vorstellung ängstigte sie, wußte sie doch nur zu gut, daß dieses Bild zur Wirklichkeit werden konnte, sobald er nur versuchte, sie zu besitzen.
Kam der Augenblick, daß er verschwand, er nicht länger im Schatten verharrte oder im Stuhle saß, überkam sie ein Gefühl großer Erleichterung. Sie hatte eine weitere Nacht überlebt, sie würde den folgenden Tag erleben. Doch wie ein Dieb im Innersten ihres Bewusstseins kauerte dieser Gedanke, der sie nicht zur Ruhe kommen ließ: dieses sichere Wissen, daß an einem bestimmten Tag und der folgenden Nacht, einer gewissen Stunde und dann in einem bestimmten Augenblick die gesamte Schuld fällig werden würde; und es würde von ihr verlangt, daß sie voll bezahlte.
Es war noch keine Woche vergangen, als Aggie, die das Frühstückstablett holen wollte, eine Nachricht von Lord Saxton überbrachte, die Herrin solle ihm in der großen Halle Gesellschaft leisten. Erienne bestätigte die Aufforderung mit ein paar leisen, undeutlich gesprochenen Worten. Innerlich mußte sie sich beherrschen. Sie war sicher, daß er die Absicht hatte, über ihre Beziehung zu sprechen. Er würde sie spottend daran erinnern, daß sie das Versprechen, ihm ein liebendes Weib zu sein, nicht eingehalten hatte, und so sah sie mit Beklemmung der Auseinandersetzung entgegen.
Während ihr Tessie in das Kleid half und das Haar bürstete, versuchte Erienne ihre Erregung zu unterdrücken. Sie hoffte fieberhaft, daß irgend etwas das Interesse ihres Ehemannes ablenken möge, um so die Begegnung zu vermeiden. Doch das war nur ein unerfüllter Wunsch, denn schneller als erwartet kam für sie der Augenblick, ihrem Mann gegenüberzutreten.
Während sie vor dem Eingang zu der großen Halle einen Moment wartete, atmete sie tief und versuchte, sich zu beherrschen. Sie war sich gar nicht sicher, ob ihr das gelungen war, als sie durch den Bogen des Portals in die Höhle des Löwen eintrat. Lord Saxton stand vor dem Kamin, einen Arm auf die Stuhllehne gelegt. Erienne schrieb es ihrer Angst zu, daß er ihr größer als sonst vorkam. Auch als sie sich ihm näherte, blieb der Eindruck seiner gewaltigen Größe.
Obwohl sie ein hochgeschlossenes Samtkleid trug, schien das Gewand einer kritischen Prüfung seiner Augen nicht standzuhalten. Doch in der kurzen Zeit ihrer Ehe hatte sie bereits gelernt, daß er keine Gelegenheit ausließ, um sie zu beobachten oder um das zu bewundern, was er als sein Eigentum betrachtete. Sie ließ sich in einen Stuhl fallen, der dem seinen gegenüberstand, nicht zuletzt, um ihre zitternden Glieder zu beruhigen. Ihr ganzer Mut war auf wenig mehr als eine beunruhigende Besorgnis zusammengeschmolzen. Um ihn nicht ansehen zu müssen, richtete sie ihr Kleid, doch er zeigte sich geduldig, und schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren Blick zu der kahlen, starrenden Maske aufzuheben.
»Es gibt da einiges in Wirkinton zu besorgen, Madam«, erklärte er mit
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