Eine Rose im Winter
ihn nicht getötet.«
Die Antwort war knapp und eindeutig. Erienne drückte sich in ihren Sitz zurück und hatte nicht noch den Mut, auch nur ein Wort zu sagen. Noch nicht einmal eine Entschuldigung. Sie hatte ihn zu sehr herausgefordert.
Der vermummte Kopf wandte sich von ihr ab, und das lederne Gesicht sah zum Fenster hinaus. Sie hatte keine andere Wahl, als sich, wie ihr Ehemann, schweigend die Landschaft zu betrachten.
Kurz vor Einbruch der Nacht hielt der Wagen vor einem Gasthof. Eriennes Zurückhaltung war offensichtlich, als Lord Saxton ihr seine Hand zum Aussteigen entgegenstreckte. Als sie sich nicht überwinden konnte, seine Hand zu nehmen, griffen seine eisenharten Finger behutsam nach ihr. Auch nach dem Ausstieg machte er keine Anstalten, sie freizugeben, und es verging ein langer Augenblick, während er auf sie herabsah. Unfähig, das Zittern zu unterdrücken, das sie nun schüttelte, suchte sie hinter der grässlichen Maske Anzeichen für seine Absicht abzulesen, doch die hereinbrechende Dunkelheit machte es ihr unmöglich, seine Augen zu erkennen. Er zog die Luft ein, als ob er zu sprechen anheben wollte, doch während sie noch wartete, atmete er mit einem tiefen Seufzer aus und schüttelte seinen lederverkleideten Kopf. Seine Hand löste sich von der ihren und bedeutete ihr mit einer einladenden Bewegung, Bundy zu folgen.
Im Gastraum befanden sich nur einige Gäste. Sie verfielen in plötzliches Schweigen, als Lord Saxton mit seiner Frau eintrat. Eine totenähnliche Stille herrschte im Raum, bis ein auffallend gekleideter Stutzer, der offenbar zu viel getrunken hatte, seinen leeren Krug auf den Tisch haute und lautstark nach einer neuen Füllung rief. Als niemand kam, zog er sich aus seinem Stuhl, rückte seine Weste zurecht und drehte sich nach einigen unsicheren Schritten gerade noch rechtzeitig zur Seite, um zu sehen, wie Erienne auf die hinter ihm liegende Treppe zuschritt. Er vergaß, daß er eigentlich zur Theke wollte und musterte sie von oben bis unten. Das Glänzen seiner Augen verriet die Abwege seines Sinnes, während das Lächeln unverhohlen seine wollüstigen Gedanken erraten ließ. Er entbot ihr eine tiefe und unbeholfene Verbeugung, die ihm selbst sehr anmutig und elegant vorkam.
»Meine schöne Dame …«, deklamierte er ritterlich und versuchte wieder gerade zu stehen. Seine Glieder versagten ihm jedoch den Dienst, und nachdem er beim Aufrichten aus dem Gleichgewicht geraten war, balancierte er gefährlich auf einem Fuß, bevor er auf einen nahe stehenden Stuhl fiel. Einen Augenblick später erhob er noch einmal seinen Blick, doch als er anstelle der ansprechenden Gestalt nur den Rücken von Lord Saxtons wehendem Mantel sah, blinzelte er mit den Augen, bis das Zwinkern seiner Augenlider langsamer wurde und sie schließlich auf seinen pausbäckigen Wangen zur Ruhe kamen. Fast ebenso schnell konnte man von seinen Lippen auch schon ein von hohen Pfeiftönen begleitetes Schnarchen vernehmen.
Man brachte das Abendessen auf Eriennes Zimmer, und Lord Saxton leistete ihr kurze Zeit Gesellschaft, bis Tessie erschien, um ihr das Bett zu bereiten. Zu Eriennes Erleichterung entschuldigte er sich für den Rest des Abends.
Das Echo seines schweren Tritts hallte durch den leeren Gang, und ein wenig später hörte sie, wie sich die gegenüberliegende Tür öffnete und wieder schloß, und das Geräusch erstarb. Noch lange, nachdem Tessie sie verlassen hatte, saß Erienne vor dem Kamin in ihrem Zimmer und starrte in die Flammen. Sie versuchte sich davon zu überzeugen, daß die Furcht vor ihrem Mann unbegründet war. Wenn es ihr nur irgendwie gelänge, soviel Willenskraft aufzubringen, daß sie sich ihrem Mann hingeben könnte, wie sie es gelobt hatte. Vielleicht würden, war die erste Hürde erst einmal genommen, ihre Ängste wie von selbst verschwinden. Doch jetzt kehrte das grausige Bild des Timmy Sears immer wieder in ihre Gedanken zurück, und sie ahnte, daß es einige Zeit dauern würde, bevor sie es aus ihrer Erinnerung getilgt haben würde.
Im Gasthof wurde es ruhiger, als sich die Gäste zu Bett begaben. Als Erienne es sich in den weichen Daunen ihres Bettes bequem zu machen begann, hörte sie einen entfernten Schlag und dann ein Kratzen, doch als sich das Geräusch nicht wiederholte, entspannte sie sich endlich und überließ es dem Schlaf, sie von ihren sorgenvollen Gedanken zu befreien.
Es war schon später in der Nacht, als sich das Geräusch wiederholte. Ein dumpfer Schlag und
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