Eine Rose im Winter
entkommen.«
»Und was geschah mit ihnen?« fragte Erienne ruhig.
Er zögerte mit der Antwort. Aus einem Krug goß er Wasser und trank, bevor er weitersprach. »Dem Baron gehörte im Süden von Wales ein kleines Haus, und man nahm an, daß Mary dort zusammen mit ihren Söhnen für einige Zeit in Sicherheit leben könnte. Einige Monate vergingen, dann schlug ein Versuch fehl, die beiden Söhne zu entführen oder zu ermorden. Sie nahm daraufhin ihre Familie und was ihr noch an Vermögen geblieben war und zog an einen anderen Ort, ohne auch nur ein Wort über ihre Abstammung verlauten zu lassen. Als die Söhne älter wurden, verboten zunächst die Umstände eine sofortige Rückkehr des Älteren. Doch sobald das möglich war, reichte er beim königlichen Gerichtshof eine Bittschrift ein, die Titel der Ländereien der Familie auf ihn zu übertragen. Ausgerüstet mit seinen Erinnerungen und einem ansehnlichen Vermögen kehrte er dann nach Saxton Hall zurück, um sein Erbe anzutreten.«
»Und irgend jemand versuchte ihn zu ermorden.« Erienne sah ihn fragend an. »Wie ist es möglich, daß dieselben Leute, die den alten Lord getötet haben, auch Feuer ans Haus legten, Christopher? Die ursprüngliche Mordtat lag so viele Jahre zurück. Würde einer von ihnen noch leben, so müßte ihr Hass doch inzwischen verflogen sein.«
»Hass. Habsucht. Eifersucht. Wer kann schon sagen, ob die Leidenschaften mit der Zeit stärker oder schwächer werden? Aber dieser Lord Saxton hat es sich in den Kopf gesetzt, die Verantwortlichen herauszufinden, ganz gleich, ob sie schon zur Hölle gefahren sind oder nicht.« Der Ausdruck in seinem Gesicht ließ Erienne frösteln, doch er war nur kurz zu erkennen, denn er wandte sich unvermittelt ab.
»Früher oder später muß es Gerechtigkeit geben«, murmelte sie.
Er nickte zustimmend. »Ich glaube, daß auch Mary Saxton zu diesem Schluß gekommen ist. Sie hat zuviel verloren, um es länger ertragen zu wollen.«
»Ich würde mich freuen, wenn ich sie eines Tages kennenlernen könnte.«
»Das werden Sie auch, mit Gottes Hilfe.« Er ergriff ihre Hand und küßte ihre kalten Finger. Dann hob er den Kopf und sah ihr in die Augen.
Für einen Augenblick hatte Erienne das Gefühl, als stünde die Zeit still. Sie war unfähig die Augen von dem Mann zu wenden, der ihre ganze Aufmerksamkeit forderte. Es schien, als wolle er ihre Seele ergründen, und aufs Neue spürte sie das Verzehrende seiner Nähe. Mit Mühe befreite sie sich von der hypnotisierenden Wirkung seiner durchdringenden Blicke und flüsterte erregt: »Es ist besser, wenn ich jetzt wieder hinauf gehe. Ich bin ohnehin schon viel zu lange fort gewesen.«
»Ihr Mann müßte bald zurückkommen«, murmelte er.
Sie sah ihn vollkommen überrascht an. »Woher wissen Sie das?«
»Einige Meilen von hier entfernt habe ich seinen Wagen überholt. Und wenn er nicht inzwischen eine andere Verehrerin gefunden hat, möchte ich annehmen, daß er bald wieder mit Ihnen vereint zu sein wünscht.« Sein Lächeln kehrte zurück. »Zumindest wäre dies meine Absicht, wenn ich Ihr Mann wäre.«
Die Wärme in seiner Stimme berührte sie und ließ ihre Hand zittern, als sie die Kerze hob. »Könnten Sie sie wieder anzünden. Ich brauche sie, um den Weg zurück zu finden.«
Er überging ihre Bitte und nahm die Laterne von der Wand. »Ich werde Sie nach oben bringen.«
»Das ist nicht notwendig«, bestand sie sofort, und ihre Zurückhaltung hatte wohl mehr als nur einen Grund.
»Ich würde es mir niemals verzeihen, wenn ihnen hier unten etwas zustoßen würde«, entgegnete er leichthin.
Er hob die Laterne in die Höhe, die den Weg vor ihnen erleuchtete, und wartete amüsiert und geduldig, daß sie ihm vorausging. Erienne sah die Herausforderung in seinen Augen und seufzte innerlich. Wie konnte sie sich weigern, den Fehdehandschuh aufzunehmen, wohl wissend, daß sie andernfalls das Opfer seines spöttischen Humors werden würde? Gegen ihr besseres Wissen nahm sie den Köder an' legte sich den übergroßen Mantel fest um die Schultern und ging mit ihm den gemauerten Gang entlang. Sie waren bereits ein gutes Stück hinter der Biegung, als aus der Dunkelheit ein raschelndes Geräusch, begleitet von einem schrillen Quieken, zu hören war. Erienne hastete mit einem unterdrückten Schrei zurück. Sie hatte eine unüberwindliche Abneigung vor Ratten, im nächsten Augenblick blieb sie mit dem Absatz ihres Schuhs an einem vorstehenden Stein hängen. Sie verdrehte sich
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