Eine Rose im Winter
hochhielt, um etwas von ihrer Umgebung zu sehen. Es schien, als ob sie sich in einer Art langem, engen Gang befand, an dessen Ende ein fernes, mattes Licht schimmerte. Kaum spürte sie, wie ihr der kalte Wind durch die Kleider drang, als sie sich, die Flamme durch ihre Hand vor dem stärker werdenden Luftzug geschützt, auf das Licht zubewegte. Nahe am Ende bemerkte sie, daß der Gang sich um eine Biegung fortsetzte, woher auch das Licht kam.
Vor Kälte und Angst zitternd löschte sie die Kerze und ging um die Ecke. Sie hielt inne und wagte nicht zu atmen. Die große, schwarz gekleidete Gestalt eines Mannes bewegte sich unter der Laterne, die an einem Holzpflock in der Wand zwischen ihnen aufgehängt war. Sie konnte nur seinen Rücken sehen, doch es entging ihrer aufmerksamen Beobachtung nicht, daß er ganz in Schwarz gekleidet war, angefangen bei seinem Hemd mit langen Ärmeln bis hin zu den hohen, enganliegenden Stiefeln, die er trug. Er bewegte sich mit einer Leichtigkeit, die ihr bekannt vorzukommen schien, doch erst, als er ins Licht sah, wußte sie, wie gut sie ihn kannte.
»Christopher!« Ungewollt entsprang der Schrei ihrer Kehle. Sein Kopf fuhr herum, und er blinzelte im Licht der Laterne, um etwas zu erkennen. Er bewegte sich auf sie zu und fragte: »Erienne?«
»Ja doch, es ist Erienne«, rief sie und spürte, wie sie eine Welle der Gefühle überkam. Erst Erleichterung und Freude, dann Furcht und Ärger. Sie beließ es beim Ärger, um ihre zärtlicheren Empfindungen zu verbergen. »Was machen Sie hier unten?«
Seine Augen musterten sie, als sie in voller Größe ins Licht trat, und leuchteten warm bei dem Anblick, der sich ihm bot. Als er die Augen hob, lag ein Lächeln auf seinem Gesicht, und er antwortete schlicht: »Ich sehe mich hier um.«
»Sich hier umsehen? Im Hause meines Mannes? Wie können Sie dies wagen, Christopher! Haben Sie kein Gefühl für Anstand?« Sie mußte sich eingestehen, daß sie Mühe hatte, ihren Zorn echt erscheinen zu lassen. Die Erinnerung daran, daß sie gefürchtet hatte, ihn nie mehr wieder zu sehen, war noch zu frisch, als daß sie einfach hätte beiseite geschoben werden können.
»Er weiß, daß ich hier bin«, antwortete er ungerührt. »Fragen Sie ihn, sobald er zurückkommt.«
»Das werde ich tun.«
Er stellte ihr eine Gegenfrage. »Wie haben Sie den Weg hier herunter gefunden?«
Sie wandte sich mit einem leichten Achselzucken ab. »Ich konnte nicht schlafen und ging in die alte Bibliothek, um dort nach einem Buch zu suchen. Dann spürte ich einen Luftzug aus der Bücherwand und fand dann diesen Gang.«
»Ich hätte die Regaltür sorgfältiger schließen sollen, als ich sie das letzte Mal benutzte«, überlegte er laut.
Ihr Blick war völlig überrascht, als sie fragte: »Sie meinen, Sie sind heute abend auf einem anderen Weg hierher gekommen?«
Er lächelte gelassen. »Sie glauben doch nicht, daß ich mich den Versuchungen aussetzen würde, an Ihrem Zimmer vorbeizugehen. Ich bin von außen hereingekommen.«
Obgleich ihr leichte Röte in die Wangen stieg, konnte sie der Frage nicht widerstehen. »Konnten Sie auch der Versuchung widerstehen, an Mollys Zimmer vorbeizugehen?«
Christophers Augenbrauen zogen sich in leichtem Ärger zusammen, als er ihrem fragenden Blick begegnete. »Molly? Ich bitte Sie, Madam, ich bin doch sehr viel wählerischer.«
Ein jähes Glücksgefühl stieg in ihr auf, doch verbarg sie es hinter einer weiteren Frage und deutete mit einer Hand auf die Umgebung. »Wofür wird dieser Durchgang verwendet?«
»Wofür man ihn jeweils braucht. Die Mutter Ihres Mannes floh durch ihn mit ihren beiden Kindern, nachdem man den alten Lord ermordet hatte.«
»Doch wofür verwenden Sie ihn jetzt? Warum sind Sie hier?«
»Ich glaube, es ist besser für Sie, wenn ich Ihnen die Antwort auf diese Frage schuldig bleibe.« Er sah sie unter hochgezogenen Augenbrauen ernst an. »Und es wäre gut, wenn Sie mit niemand anderem als Stuart darüber sprechen würden.« Er sah sie erwartungsvoll an.
»Sind Sie ein Dieb?« fragte sie unverblümt.
Seine Antwort kam mit einem kurzen Lachen. »Kaum!«
Erienne merkte enttäuscht, daß er sie nicht weiter einweihen wollte, und sie konnte dieses ohnmächtige Gefühl in ihrer Stimme nicht verbergen. »Ich wünschte, jemand könnte mir erklären, was hier gespielt wird!«
»Das gehört alles zu einer alten Auseinandersetzung«, seufzte er, »wobei die Einzelheiten nicht immer ganz klar sind.«
»Ich würde sie
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