Eine Rose im Winter
dritten Woche lagen die Einschläge ihrer Kugeln schon ziemlich nahe beim Ziel. Farrell war am vorigen Montag bereits nach Mawbry zurückgekehrt, so daß sie in den folgenden Tagen in den vollen und ungeteilten Genuss der Aufmerksamkeit ihres Ehemannes kam. Ein Arm legte sich um ihren Busen, als er ihr beim Zielen half, von hinten spürte sie seine Lenden oder seinen Handschuh, der ihr den Gewehrkolben gegen die Schulter drückte, während seine Hand auf ihrer Brust ruhte. Diese enge Berührung mit ihrer Person zeigte mehr als alles andere das Vergnügen, daß ihm ihr Besitz bereitete, und sie verspürte weder Angst noch Abneigung, wenn seine Lederhände sie liebkosten. Nur das schemenhafte Bild in ihrem Inneren wollte ihr keine Ruhe geben.
Mit der Zeit wuchs ihre Neugier über den Geheimgang, den sie nicht vergessen konnte. Christophers Erklärung über seine Verwendung hatte sie nicht befriedigen können. In den Tagen nach der Entdeckung mußte sie immer wieder daran denken, daß er ihr nur einen kurzen Abriss der Familiengeschichte gegeben und es vermieden hatte, auf ihre Fragen nach der derzeitigen Verwendung des Kellerganges einzugehen. Als sie versuchte, von Lord Saxton darüber zu hören, zuckte er nur die Schultern und versicherte ihr, daß sie bald mehr darüber erfahren würde.
Er war einen Tag außer Haus, und die Dienstboten waren in einem anderen Teil des Hauses mit dem Saubermachen beschäftigt, als sie der Gedanke an den Geheimgang noch ein mal in die Bibliothek zog. Dieses Mal war sie besser für eine Erforschung ausgerüstet, nämlich mit einer Stalllaterne und einem dicken Schal. Schnell schlüpfte sie durch die Öffnung in der Bücherwand und verschloss hinter sich die Geheimtür.
Obwohl es erst kurz nach zwei Uhr am Nachmittag war, herrschte im Inneren des Gangs schon tiefste Dunkelheit. Jenseits des Lichtkegels der Laterne war nur Ungewissheit. Ein Rascheln in der Ferne dämpfte ihren Mut, doch sie wußte, daß sie ihre Furcht unterdrücken mußte, wollte sie herausfinden, wohin der Gang führte.
Die schmalen Stufen hinunter kam sie auf den unteren Gang und, vorbei an der Biegung, zu dem Ort, an dem sie Christopher entdeckt hatte. Der Korridor war jetzt leer, und eine nähere Untersuchung förderte auch nichts Aufregenderes zutage als ein paar Pferdegeschirre, die über einem Bock hingen, einen hölzernen Stuhl, eine verschlossene Truhe und ein Paar schwarze Stiefel, die ordentlich nebeneinander standen. Sie ging durch die spärliche Einrichtung, um sich die Tür anzusehen, die Christopher damals geschlossen hatte. Sie war aus dicken Brettern gezimmert und nur mit einem einfachen Riegel verschlossen, den man von beiden Seiten hochheben konnte. Unter der Tür drang ein dünner Strahl Sonnenlicht in den Gang und verführte sie, das Tor aufzuziehen.
Im ersten Augenblick verwirrte sie der Anblick, denn alles, was sich ihrem Auge bot, war dichtes Buschwerk. Kaum gab es genug Platz, um daran vorbeizukommen, doch indem sie sich an die Seite drückte, gelangte sie durch die wild wuchernden Sträucher zum Rand einer Baumgruppe an der Seite eines Hügels, der sich von dem Herrensitz sanft abfallend in das Tal hinzog. Über der Masse der dicht stehenden Bäume, die den Hügel bedeckten, konnte sie einige der hohen Kamine erkennen, die sich über den spitzen Dächern erhoben. Unter den Bäumen verbarg dichtes Unterholz dem Fremden jedes Anzeichen eines Weges oder Pfades, der durch den Wald führen mochte. Eigentlich wollte sie nicht über das Ende des Ganges hinausgehen, doch die frischen Fußabdrücke in einem Streifen geschmolzenen Schnees bezeugten, daß hier vor noch nicht allzu langer Zeit jemand gegangen war. Die Spuren waren zu kurz und zu breit, als daß sie Christopher hinterlassen haben könnte, und da sie auch nicht von ihrem Mann stammten, mußte sie annehmen, daß es noch jemand gab, der von dem Geheimgang wußte.
Erienne reckte neugierig ihren Kopf in die Höhe und ließ ihren Blick über die Nähe und Ferne der Landschaft schweifen. Sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken: ein mit Bäumen bestandener Hügel, ein kleines, zu Rinnsalen versickerndes Flüsschen, das sich durch das Tal zog, und an einer Stelle vom Wetter ausgewaschene Felsen. Sie sah angestrengt durch die Bäume und war sich zunächst nicht sicher, ob ihre Einbildung sie nicht getäuscht hätte. Doch dann sah sie noch einmal deutlicher: ein Mann in erdfarbenen Kleidern, der von Busch zu Busch sprang und von den dichten
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