Eine Rose im Winter
zu können, so daß sie ihn noch immer in ihrem Besitz hatte. Ihr Vater hätte ihn ihr schon lange weggenommen, wenn anzunehmen gewesen wäre, noch einen Gewinn dabei herauszuschlagen.
Das Pferd war hoch, und obwohl sie auf eine kleine Bank stieg, mußte sie noch in die Höhe springen und sich dann halb über den Damensattel ziehen. Sie schlug blind mit dem Fuß vor und zurück, bis sie den Steigbügel gefunden hatte und drehte und wendete sich dann schwerfällig, bis sie schließlich sich und ihre Röcke in die richtige Position gebracht hatte. Die ganze Zeit mußte sie dabei das stampfende Tier am kurzen Zügel halten.
»Geh vorsichtig, wenn dir deine Haut etwas wert ist, Sokrates«, mahnte sie und tätschelte seinen Nacken. »Alles muß heute früh ganz heimlich gehen, und ich möchte nicht die Stadt aufwecken.«
Das Pferd scharrte ungeduldig und warf den Kopf zurück, als es fertig zum Aufbruch war. Erienne sah keinen Grund, es noch länger aufzuhalten. Nachdem ihr Entschluß feststand, hatte sie es genauso eilig wegzukommen.
Sie trieb es aus der Stallung und mußte gleich den Atem anhalten und den Kopf vor dem niederprasselnden Eisregen zur Seite drehen. Sie hasste die Aussicht, auf einen neuerlichen ungemütlichen Ritt, doch nichts in der Welt außer einem ganz entsetzlichen Missgeschick hätte sie davon abhalten können.
***
Im Inneren der Wirtschaft hörte man Averys Stimme dröhnen, während der Wirt zum Vorderfenster ging, um Ben aus seinem lauten Schnarchen zu wecken. »He du, guck dich mal nach einem anderen Platz um, wo du dich zur Ruhe legst. Bin's leid, mir noch länger deine Sägerei anhören zu müssen.« Er hielt einen Augenblick inne, um durch die Scheiben zu sehen und gab einen überraschten Laut von sich. »Also da hat ja wirklich jemand gute Nerven«, bemerkte er und zeigte auf Pferd und Reiter, die die Straße herunter kamen. »Die wird bald bis auf die Knochen zusammengefroren sein. Möchte wissen, wer …« Er starrte genauer auf Pferd und Reiter, und sein Unterkiefer sackte nach unten, als er die Gestalt erkannt hatte. »Heiliger Strohsack! Komm mal hier rüber, Bürgermeister. Ist das nicht deine Tochter?«
Avery machte eine abweisende Handbewegung. »Geht sicher auf den Markt.« Er zeigte mit seinem Daumen auf den Anschlag, der an der gegenüberliegenden Wand hing. »Stimmt schon, wir haben über diese Geschichte da eine kleine Meinungsverschiedenheit gehabt. Kaum daß wir zwei Worte miteinander gewechselt haben, seit mein junge die Ankündigung angeschlagen hat. Wird ein bißchen aufmüpfig, wenn die Dinge nicht so gehen, wie sie sich das vorstellt. An so einem Tage wegzugehen und ein schönes, warmes Feuer zu verlassen, zeigt, daß sie keinen Verstand hat. Wieso …« Er begann doch etwas Interesse zu zeigen und ging zum Fenster, während er die Reithosen über seinen Bauch hochzog. »Sie kann sich den Tod holen, da draußen in der Nässe, und sie wird mit Sicherheit die ganze Versteigerung kaputt machen, wenn sie da schniefend mit tropfender Nase vor den Leuten steht.«
»Sie geht auf den Markt, was!« spottete Jamie. »Sitzt aber aufm Pferd mit 'nem großen Bündel hinten aufgeschnallt.« Er unterdrückte sein aufsteigendes Gelächter, als er sah, wie Averys Blick sich verfinsterte und ihm plötzlich die Zornesröte ins Gesicht stieg. Seine Stimme war fast nicht mehr zu hören, als er fortfuhr, »ich glaube, sie hat von allem genug, Bürgermeister. Glaube … sie verläßt dich.«
Avery schoß zur Eingangstür und stieß sie auf, als seine Tochter vorbeiritt, ihren Namen brüllend rannte er auf die Straße, doch Erienne, die seine Stimme erkannte, schlug so stark in Sokrates' Flanken, daß das Tier in gestrecktem Galopp die Straße entlangsprengte.
»Erienne!« Avery rief noch einmal, hielt dann seine Hände wie ein Sprachrohr vor seinen Mund und schrie der Reiterin nach, die sich schnell entfernte. »Erienne Fleming! Komm hierher zurück, du undankbares Geschöpf! Es gibt keinen Fleck von hier bis London, wo du dich vor mir verstecken könntest! Komm zurück! Komm zurück, sage ich!«
Ein Gefühl der Panik ergriff Erienne. Vielleicht war das nur der Wunsch ihres Vaters gewesen, doch seine Drohung brachte ihre Pläne durcheinander. Er würde ihr folgen. Er würde Farrell aufwecken, und bald würden sie beide irgendwie hinter ihr her sein. Wenn sie auf der Straße nach Süden blieb, konnten sie sie leicht einholen. Erreichte sie London, so würde er seine Freunde bitten,
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