Eine Rose im Winter
Überhaupt keine Mühe. Im Gegenteil, mir war's 'n Vergnügen, mich um so'n junges Mädchen, wie Sie sind, kümmern zu können. Hat 'n bißchen von der Trübsal weggenommen, die über dem Haus hängt. War schon so lange leer un' überhaupt, Sie versteh'n mich schon.«
Erienne nickte und ließ ihren Blick über die Fassade des Herrensitzes schweifen. Es war ein ziemlich nüchternes Gebäude im Renaissancestil, das sich wuchtig hinter einem überragenden Turm erhob, dessen Spitze bis zur Höhe der Kamine hinaufragte. Der abgebrannte Flügel war von diesem Standort aus kaum zu sehen und mit trockenem und halbverwelktem Unkraut überwuchert. An der Seite des Abhangs standen dicht geschlossene Baumgruppen, die sich bis hinter das Haus und den Weg entlang hinzogen, der am Hof endete. Es war derselbe Weg, der über die flachen Hügel nach Mawbry und weiter führte. Im Norden erstreckte sich die schmale Meeresbucht wie ein schmaler Strom am Horizont, manchmal blau in der Sonne glitzernd und dann wieder von niedrig hängenden Wolken verborgen.
Der Wagen kippte nach vorn, als der Kutscher sein Gewicht auf den Bock brachte, und Erienne ließ sich mit einem Seufzer in die Samtkissen fallen. Ihr Mantel, den man gereinigt und getrocknet hatte, bewahrte sie vor der Morgenkühle, doch er half ihr nicht gegen die Kälte, die in ihrem Herzen aufstieg.
***
Der Anblick von Sokrates, der hinter dem Wagen herlief, brachte die Leute von Mawbry auf die Beine. Die Kutsche allein schon weckte ihre Neugier, denn das große, elegant ausgestattete Fahrzeug mit seinem prächtigen Wappen war ihnen nicht vollkommen unbekannt, obwohl es sicher einige Jahre her war, daß sie es zum letzten Mal gesehen hatten.
Als die Kutsche schließlich vor dem Haus des Bürgermeisters zum Halten kam, hatte sich schon eine dichte Menge versammelt, und ihr Vater, der von der Wirtschaft herbeigeeilt kam, mußte sich seinen Weg durch die gaffenden Dorfbewohner bahnen, um in den inneren Kreis zu gelangen. Farrell kam rechtzeitig aus dem Haus, um Sokrates am Zügel zu nehmen, und er stand etwas verlegen da, als ein Bediensteter den Schlag öffnete und Erienne ausstieg.
Als Avery Fleming seine Tochter erblickte, baute er sich mit gespreizten Beinen vor ihr auf und stemmte seine Hände in die Seiten. Er machte keinen Versuch, seine Stimme zu dämpfen: »So! Du verdammter kleiner Balg! Kommste zurück, tatsächlich. Bin sicher, du kannst mir 'ne feine Geschichte erzähl'n, wo du dich beinah eine gute Woche rumgetrieben hast.«
Erienne verhielt sich kühl und reserviert. Sie verabscheute es, vor allen Dorfbewohnern beleidigt zu werden. Ihr Vater wußte ja nur zu genau, warum sie das Haus verlassen hatte, und ihre Antwort war entsprechend einfach, fast schroff. »Ich bin mit Sokrates ausgeritten.«
»'n langer Ausritt! Fünf Tage warst du weg, und das bekomme ich als Antwort! Ha! Weggelaufen bist du!« Er starrte sie argwöhnisch an. »Frage mich nur, warum du zurückkommst. Hab' nicht gedacht, dich noch mal wieder zu sehen, und jetzt kommst du hier in einer feinen Kutsche vorgefahren, als wärst du 'ne blaublütige Prinzessin, die ihren Landeskindern 'nen Besuch abstattet.«
Versteckter Zorn schwang in Eriennes Worten, als sie antwortete. »Ich wäre ganz sicher nicht zurückgekommen, wenn ich die Wahl gehabt hätte. Lord Saxton –«, die Überraschung der Zuschauer ließ sie einen Augenblick innehalten, und als sie sich umsah, merkte sie, daß die Dorfbewohner gespannt auf ihre weiteren Worte warteten, »Lord Saxton hat die Dinge in seine eigenen Hände genommen und ließ mich durch seine Bediensteten zurückbringen.« Als sie dem Blick ihres Vaters begegnete, zog sie ihre fein geschwungenen Augenbrauen in die Höhe. »Ganz sicher einer deiner Freunde, Vater.«
»Da gibt's überhaupt keinen Lord Saxton mehr, seit er in den Flammen umgekommen ist«, prustete er heraus. »Du lügst, so wahr, wie ich hier stehe!«
»Du irrst dich, Vater.« Sie lächelte nachsichtig. »Lord Saxton ist nicht tot, er lebt.«
»Es gibt Leute, die gesehen haben, wie er am Fenster stehend von den Flammen verschlungen wurde!« entgegnete Avery. »Er kann nicht mehr am Leben sein!«
»Ist er aber, ganz ohne Zweifel«, erwiderte Erienne ruhig. »Er lebt auf Saxton Hall mit einer Schar von Dienstboten …«
»Muß wohl sein Geist sein!« spottete ihr Vater. »Oder jemand hat dich hinter's Licht geführt. Wie sah er denn aus?«
»Ich hab' ihn nie richtig gesehen. Sein Gesicht war im
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