Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.
unter einer Decke stecken, vor Augen halten. Sieht man genauer hin, sind es recht viele Punkte, über die sich der Generalleutnant Avogadro di Casanova und der sizilianische Professor Giuseppe Stocchi einig sind, obwohl sie unabhängig voneinander von unterschiedlichen Beobachterposten ausgingen. Beide begehen denselben Fehler: Sie glauben, daß die parlamentarische Untersuchungskommission sich auch mit den »Ursachen« beschäftigen müßte. Die Kommission wollte sich jedoch nur ein Bild von den »Bedingungen« machen, wie sie sich in jenem Moment ihren Augen darboten, und höchstens die Wege aufzeigen, die zu »einer guten und weisen Lokalverwaltung« führten. Aus diesem Grund beachtete sie nicht einmal die Absprachebulle, die eine recht gewichtige »Ursache« gewesen war.
14.
Ausschließlich der Absprachebulle widmet sich Giuseppe Stocchi in seinem zweiten Brief, der den Titel La questione sociale – Elemento religioso (Die soziale Frage – Das religiöse Element) trägt. Und ich beschränke mich hier wiederum aus Vorsicht auf die bloße Abschrift.
»Der Sizilianer ist im Grunde nicht religiös, sondern abergläubisch. Diese natürliche Veranlagung entwickelt sich bestimmten Interessen gemäß weiter; zuerst, weil er in dieser Art Fatalismus, der Hand in Hand geht mit jeder positiven Religion, eine Ausrede findet und beinahe eine Rechtfertigung seiner Widerspenstigkeit gegen Arbeit und Betriebsamkeit. Dann auch, weil die abscheuliche Duldsamkeit und Lässigkeit der ignoranten Priesterschaft, die korrupt und raffgierig, wie sie ist, die drängende Stimme seines Gewissens einschläfert: Sie überhäuft ihn mit Absolutionen und Segnungen bei jeder Art von Schuld oder Verbrechen und verführt ihn zu einem Lasterleben und zu Missetaten, zu denen er ohnehin schon eine große Neigung hat.
Hier liegt die Hauptwurzel jeglichen Übels. Die verrufensten Gewalttäter haben stets als Diebe und mit der Absprache angefangen. Diebstahl und Absprache sind nicht nur toleriert und gerechtfertigt, sondern von der katholischen Religion, wie die sizilianische Priesterschaft und der Laienstand dieselbe verstehen, gefördert.
In der Tat, wißt Ihr, woher der Begriff Absprache stammt? Der kommt von der Absprachebulle (das ist zugleich der offizielle und populäre Titel), die Jahr für Jahr neu erlassen und aufgrund eines ausdrücklichen Mandats der Bischöfe in sämtlichen Dörfern und Städten Siziliens flächendeckend Verbreitung findet.
Die Absprachebulle wird von Sonderbeauftragten – für gewöhnlich Priester – zum Preis von einer Lira und dreizehn verkauft; der Käufer ist danach berechtigt, ruhigen Gewissens gestohlene Ware oder Geld im Wert bis zu zweiunddreißig Lire und achtzig einzubehalten.
Für jede zum genannten Preis erworbene Bulle darf sich der Käufer für den Gegenwert als geschlichtet betrachten, bis die Summe des Diebesguts einen Betrag von dreitausendachthundertsechzig Tari (1640,50 Lire) erreicht. Wird diese Ziffer überstiegen, muß der Dieb schnurstracks zum Bischof gehen, oder jemanden zu ihm schicken, damit die Absprache unter vier Augen zum Zwecke des Schuldenerlasses gemacht wird. Das klingt wie im Märchen! Aber nicht nur bei Diebstahl kann man sich freikaufen. Auch für weitere neunzehn Titel ist das möglich, die jede reale und auch nur vorstellbare Gaunerei umfassen. Man müßte sie alle – einer ist ungeheuerlicher und schamloser als der andere – aufzählen. Doch der Weg ist noch lang, und ich darf die Art dieses Textes und die Vorgaben einer Zeitung nicht vergessen.«
Es sei betont, daß die Hervorhebungen alle von Stocchis Hand stammen, und nun dürfen wir uns eine winzige Pause gestatten. Mit den Zahlen hatte ich es noch nie und kann mir deshalb nicht recht erklären, von welchen diffizilen Schätzungen ausgehend die Bischöfe den Prozentsatz des ihnen Zustehenden berechneten. Es macht wenig Sinn, eine ausführliche Liste der zwanzig »Titel« und dessen, was in ihnen enthalten ist und sich verschiedentlich überschneidet, aufzustellen. Es genügt einfach zu sagen, daß alles mit Preisen im Katalog steht, von der Korruption bis zum Viehdiebstahl, von der falschen Zeugenaussage bis zur Hintergehung von Unzurechnungsfähigen. Aber es gibt noch etwas wesentlich Subtileres.
»Als kluger Mensch und da ich in die anderen Themen verbissen bin, um die ich mich im folgenden kümmern werde, beschränke ich mich darauf, nur zwei der Titel wortwörtlich zu übertragen, und bitte den Leser,
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