Eine Schwester zum Glück
dem wir alle zusammen ein Baby be kamen, nirgends auf der Liste auftauchten. Jetzt wirken sie so offensichtlich – so unvermeidlich. Doch damals kamen sie uns überhaupt nicht in den Sinn.
Am nächsten Morgen weckte Mackie mich um sechs, weil ihr der Kopf schwirrte. Wir waren erst vor etwa vier Stunden in ihrem Bett eingeschlafen, aber jetzt war sie hellwach.
Sie stupste mich an und flüsterte: »Hältst du es immer noch für eine gute Idee?«
Mein Gesicht war in Clives Kopfkissen gedrückt, das, wenn ich mich nicht irrte, genau wie Drakkar Noir roch. Ich öffnete ein Auge einen Spaltbreit. Es war immer noch so dunkel, dass ich Mackie nicht einmal erkennen konnte. »Was?«
»Das Baby«, sagte sie. »Jetzt, wo du Gelegenheit hattest, darüber zu schlafen.«
»Ich halte es immer noch für eine gute Idee.« Ich ließ das Auge wieder zufallen.
»Gut«, flüsterte sie. »Ich auch.«
Eine Minute später stupste sie mich wieder an.
»Schläfst du?«, fragte sie.
»Irgendwie.«
»Okay«, sagte sie. Doch dann wurde sie zappelig. Sie kratzte sich am Knie und hustete. Sie rollte hin und her und richtete die Decken. Zu dem Zeitpunkt hätte ich eine erste Ahnung davon bekommen können, dass ich gerade eine Entscheidung getroffen hatte, die mich die Kontrolle über mein eigenes Leben kosten würde. Aber damals versuchte ich im Grunde nur weiterzuschlafen.
Nach einer Weile sagte ich: »Wir sind wohl wach, schätze ich.«
Sie setzte sich kerzengerade auf. »Prima!« Dann war sie aus dem Bett, riss die Vorhänge auf, ließ das Wasser laufen, betätigte die Klospülung. »Was hältst du von folgendem Babynamen?«, rief sie aus dem Badezimmer. »Indiana.«
Ich hatte mich noch immer nicht von der Stelle gerührt. »Für einen Jungen oder ein Mädchen?«
Sie war bereits beim Zähneputzen. »Für ein Mädchen. Natürlich. So mit einem a am Ende.«
»Stimmt«, sagte ich.
Sie hielt unter dem Putzen inne. »Allerdings ist Indiana Jones wohl doch eher ein Kerl gewesen.«
Ich blieb reglos liegen, stellte mich tot.
Einen Moment herrschte Ruhe, während Mackie sich die Zähne mit Zahnseide reinigte. Dann kam sie ins Zimmer und klatschte auf meinem Hintern einen Trommel wirbel. »Auf geht’s!«, sagte sie. »Machen wir einen Spazier gang.«
Als ich erst einmal wach war, war ich auch vergnügt. Ich dachte ständig, wie befriedigend es doch war, mit einem Projekt aufzuwachen, auf das man sich freuen konnte. Wir durchstreiften die Gegend in unseren Sportklamotten und kamen am Haus unseres Dads vorbei, dem Haus, in dem wir aufgewachsen waren und das jetzt aufgrund fehlender Lamellen an den Jalousien und der wild wuchernden Azaleen ziemlich heruntergekommen aussah. Auch wenn es im Grunde immer noch dasselbe war – ein hübscher zweistöckiger Backsteinbau. Nichts Ausgefallenes. Da es noch so früh war, machten wir nicht halt, doch wir verlangsamten im Vorbeigehen unsere Schritte, ließen die elektrische Spannung auf uns wirken, die unzählige Erin nerungsschichten gewöhnlichen Dingen verleihen können. Der Magnolienbaum, auf den wir früher immer geklettert waren. Die Stelle, an der Mackie einst eine Strumpfbandnatter gefunden hatte. Und nebenan das Haus, zu dem ich einmal gegangen war, um für die Pfadfinderinnen Kekse zu verkaufen. Tags zuvor hatten wir in der Schule Tollwut besprochen – und ich war schreiend davongelaufen, als unser Nachbar mit Zahnpastaschaum am Mund an die Tür gekommen war.
In dem Sommer, in dem unsere Mutter starb, hatte Mackie darauf bestanden, mit mir ins Einkaufszentrum zu fahren. Ich war in der sechsten Klasse. Ich hatte eine Zahn spange, in der ständig etwas hängen blieb, und Gummis, die meine oberen und unteren Zahnreihen miteinander verbanden. Meine Haare trug ich in einem sich kräuselnden Puschel oben auf dem Kopf, und ich hatte eine Sonnenblende in Tarnfarben auf, die ich in einem Militärladen in Galveston gefunden hatte. Ich war – wie Mackie unserer Mutter erklärt hatte – eine Blamage für die ganze Familie.
Mackie hingegen war ziemlich beliebt. Sie war einfach genetisch dazu veranlagt, in der Middleschool klarzukommen. Mir fehlte dieses Gen. Zu Hause verbrachten wir Zeit miteinander, aber in der Schule sollte ich nicht mit ihr reden. »Ich könnte dir dabei helfen, beliebt zu werden«, erklärte sie mir eines Abends, während wir den Tisch abräumten, »aber dazu müsste ich mich mit dir blicken lassen.« Ehrlich gesagt hatte sie versucht zu helfen. Sie gab mir alle möglichen
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