Eine Schwester zum Glück
holte sie hervor, entfernte die Preisschilder, zog mich an, und mein Dad fuhr mich in unserem Volvo zu der Party. Jetzt finde ich die Erinnerung an das, was ich mir damals dachte, komisch. Der Tod ergibt für ein Kind im Grunde keinen Sinn. Noch lange nachdem unsere Mutter gestor ben war – ein bisschen sogar noch heute –, glaubte ein Teil von mir, dass sie nur in den Urlaub gefahren war. In meiner Vorstellung machte sie eine Kreuzfahrt nach Alaska, stand abends im frischen Wind an Deck und vermisste uns, hatte aber zu viel Spaß, um nach Hause zurückzu kommen.
Ich wusste, dass sie tot war. Ich war auf der Beerdigung und sah die dreckigen Geschirrstapel in unserer Spüle. Ich lag in unserer Einfahrt und versuchte, ihren Geist zu sehen, wie er durch den Nachthimmel flüsterte. Doch gleichzeitig weigerte ich mich, es zu wissen. Es kommt mir so merkwürdig vor, es jetzt einzugestehen, doch als ich auf die Party ging, hoffte ich, ihr Tod würde mir bei meinem sozialen Status weiterhelfen. Dass ich vielleicht nicht nur dank meiner neuen Klamotten verwandelt war, sondern außerdem zu einer derart selbstsicheren und tragischen Gestalt geworden war, dass die Jungs sich alle in mich verlieben würden. Als hätte ein dreizehnjähriger Junge das überhaupt gekonnt. Als hätte ein Junge mit Zahnspange und einem Stapel Comics unter dem Bett und einer Dauerlatte meine Mom auch nur ansatzweise ersetzen können.
Doch an dem Abend auf der Party war ich irgendwie voller Hoffnungen. Ich hoffte immer noch, eine Art Heldin zu sein, der tapferste Mensch in unserer ganzen Klasse. Was ich in dem Jahr tatsächlich auch war – selbst wenn es keiner ahnte. Auch ich nicht.
Mittlerweile ging es mir natürlich gut. Es ging uns allen gut. Wir waren erwachsen mit Erwachsenenproblemen und -freuden. Das Leben ging weiter, und ich dachte nicht mehr allzu oft an jenen düsteren Sommer. Jedenfalls nicht, wenn ich in New York war. Vielleicht erklärte das den Umstand, weshalb ich überhaupt dorthin gezogen war.
Als Mackie und ich von unserem Spaziergang zurück kehrten, pressten wir frischen Orangensaft aus, fügten einen Spritzer Limette hinzu und machten ein paar Yoga-Stretchübungen. Den restlichen Vormittag über gingen wir noch einmal unsere Ideen vom gestrigen Abend durch. Die Vorstellung zusammenzuarbeiten hatte etwas Köstliches. Es war so lange her, dass unsere Leben eine solche Einheit gebildet hatten. Meist unterhielten wir uns nur am Telefon über die Dinge, die in unseren getrennten Welten vor sich gingen. Jetzt waren diese Welten auf einmal miteinander verschmolzen, und wir bekamen einfach nicht genug davon, unsere Pläne zu besprechen.
Bis zu Clives Rückkehr, gegen Mittag, hatten wir Ausdrucke, Kalkulationstabellen und Statistiken für ihn. Wir hatten im Internet Fakten gesammelt wie Eichhörnchen, die Nüsse horteten. Er war ein die-Dinge-bis-zu-Ende- denkender Typ, und wir waren bereit für ihn. Wir rechneten mit einem gewissen Widerstand und dachten, es würde hart werden, ihn zu überreden.
Wir wollten mit dem Gespräch warten, bis er ein Sandwich gegessen und die Beine hochgelegt hatte. Doch er hatte noch nicht einmal seinen Koffer abgestellt, da sah er Mackie mit zusammengekniffenen Augen an und fragte: »Was ist los mit dir?«
»Nichts.« Mackie verzog keine Miene.
Clive sah zu mir herüber, dann wieder zu Mackie. »Irgendetwas ist hier los.«
Da sagte sie es ihm – trotz unserer ganzen Planung, wie wir es ihm am besten beibringen würden, trotz unseres schrittweisen Entwurfes, wie wir die Baby-Thematik an ihn herantragen würden, und trotz der unzähligen Male, als Mackie uns beschwor: »Wir müssen unbedingt cool bleiben!« Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus, und sie sagte: »Sarah will unser Baby für uns kriegen!« Dann fing sie an herumzuhüpfen.
Und da erlebte ich die unglaubliche Art und Weise, wie sehr Clive meine Schwester liebte:
Wir mussten unsere Mappe voller Tabellen noch nicht einmal aufmachen. Wir vermittelten ihm in Grundzügen, wie es funktionieren sollte, und versicherten ihm, dass das Baby seines und Mackies und nicht seines und meines sein würde. Er ließ seinen Koffer auf dem Küchenboden stehen und öffnete eine Kräuterlimonade, während wir drauflosplapperten, dass ich eine Erleuchtung gehabt hätte und die Welt verbessern wollte und dass ich ohnehin an einem Punkt angelangt sei, an dem ich für eine Weile nach Hause kommen und in mich gehen wollte.
Als wir verstummten und
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