Eine Schwester zum Glück
Vater war nicht bewusst, was er auslöste – jedenfalls so lange nicht, bis Mackie es ihm klarmachte.
Sie erhob sich. »Du kannst deine Country-und-Western-Tussi zu Thanksgiving anschleppen und verkünden, dass ihr heiraten werdet, und wir sollen alle bloß unseren gebratenen Reis mampfen, aber wenn ich dir die fantastischen Neuigkeiten eröffne, dass wir endlich einen Weg gefunden haben, ein Baby zu bekommen, faselst du etwas von Gesetzen zur Kinderarbeit in Malaysia und sagst dann Nein?«
Mein Dad blickte sie verwirrt an. »Schatz, ich sage doch nicht –«
»Weißt du was?«, fuhr Mackie fort. »Du hast keinerlei Mitspracherecht mehr bezüglich meiner schlechten Entscheidungen, und ich« – hier huschte ihr Blick zu Dixie – »nicht bezüglich deiner.« Sie sah wieder meinen Dad an, drehte sich dann um und marschierte aus dem Restaurant. Clive eilte ihr hinterher. Obwohl sie mich eigentlich mit nach Hause nehmen sollten, blieb ich am Tisch sitzen.
In der darauffolgenden Stille legte ich meine Stäbchen beiseite und griff nach meiner Gabel.
In der Nacht lag ich in meinem Einzelbett im Kinderzimmer lange wach.
Ich konnte Mackie und Clive durch die Wand hören. Oder möglicherweise durch den Lüftungsschlitz der Klima anlage. Ich kam nie dahinter, auch nach nächtelangem Rätseln nicht, was genau den Schall von ihrem Zimmer in meines leitete. Doch ihre Stimmen hätten ebenso gut durch Lautsprecher verstärkt worden sein können.
Ich hätte nach nebenan laufen sollen, sobald ich das Problem erkannte, doch stattdessen lauschte ich gespannt ihrer Unterhaltung. Sie sprachen über meinen Vater und meine Mutter und die Strasskönigin. Sie entwickelten komplizierte Theorien, was wir alle einander bedeuteten. Eigentlich war es vor allem Mackie, die das tat. Doch Clive schien ein ziemlich guter Zuhörer zu sein. Ich nickte sogar – anfangs wenigstens – angesichts ihrer Einsichten, was mich betraf. Es ging um meine Weigerung, mich einem anderen Menschen gegenüber zu öffnen, und es folgte eine Flut an Überlegungen, wie ich endlich mein Glück finden könnte. Als ich Mackie sagen hörte, »Sie will allein sein. Sie lässt nicht zu, dass jemand sie liebt« – und Clive erwiderte: »Keiner will allein sein« –, war es wirklich zu spät, an ihre Tür zu klopfen. Ich kramte hektisch in meinem Koffer nach meinem iPod und nahm mir vor, das Ding regelmäßig aufzuladen. Lange Zeit schlief ich jeden Abend damit ein.
Als ich so im Bett lag, dachte ich wieder an das Mädchen, das ich in dem Sommer war, als meine Mutter starb, und wie unglaublich naiv ich damals war. Ich war ein Kind, das sich selbst beigebracht hatte, Garfield zu zeichnen, und hatte all meinen Lehrkräften zum Schuljahres ende Bilder geschenkt. Ich übte immer Zauberkunst stücke vor einem hohen Spiegel in meinem Zimmer und hoffte, dass sich mir eines Tages vielleicht spontan die Gelegenheit bieten würde, eine Gruppe von Zuschauern zu verblüffen. Ich grub ein Loch hinter unserer Garage, weil ich ein unterirdisches Klubhaus bauen wollte. Selbst mit zwölf war ich immer noch ein richtiges Kind – und jederzeit in der Lage, auf das Imaginäre und Skurrile zurückzugreifen.
Ich wusste damals nicht, dass meine Mutter es mir ermöglichte, derart selbstvergessen durch die Welt zu gehen. Als sie starb, verlor ich zusätzlich zu dem Universum an Dingen, das ein Mädchen verliert, wenn es seine Mutter verliert, den einen Menschen, der mich mit all meinen Eigenheiten genau kannte und mich trotzdem vergötterte.
Als sie nicht mehr da war, verschwand auch meine Naivität. Ich sammelte mich und riss mich zusammen. Ich war immer noch ich – bloß irgendwie weniger ich selbst als vorher. Eine straffere, einfachere, präsentablere Ver sion meiner selbst. Ich beobachtete, was die anderen Mäd chen machten, und machte das Gleiche. Ich zog an, was sie anzogen, sagte, was sie sagten, und blieb stets so normal wie möglich. Ich machte es mir zur Aufgabe, cool zu werden. Ich stieg sozial auf und tauschte meine alten Freunde gegen neue ein. Ich kaufte mir einen Lockenstab. Ich wurde anonym, annehmbar, ruhig und pflegeleicht. Teils lag das an der Middleschool – die Middleschool ist für jeden eine Herausforderung –, doch das Risiko erhöhte sich für mich in dem Moment, als meine Mutter starb. Denn ohne sie wusste ich: Wenn die Leute meine Haare oder mein Outfit – oder sonst etwas an mir – blöd fanden, gab es auf der Welt niemanden mehr, der mir sagte, dass sie
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