Eine Schwester zum Glück
Beispielsweise kann ich mich noch an eine Zeit an der Uni erinnern, als ich mir Sorgen machte, an Hautkrebs zu leiden.
»Wo denn?«, hatte Mackie immer wieder gefragt.
»Hier«, sagte ich dann und zeigte auf eine kleine Stelle an meinem Handrücken.
»Das ist eine Sommersprosse.«
»Nein. Neben der Sommersprosse.«
»Ich sehe bloß die Sommersprosse.«
»Du gibst dir einfach keine Mühe«, sagte ich immer wieder. »Hier. Genau hier.«
Mackie hasste diese Gespräche. Sie war niemand, der in irrationalen Ängsten versank, sondern tat ihr Bestes, nüch tern und ruhig zu bleiben, und zog es vor, ihre Ängste an vernünftige Dinge wie Pestizide und Erderwärmung zu knüpfen. Das Leben hatte nicht die gleichen Spuren bei ihr hinterlassen wie bei mir, und auf meine Momente der Panik reagierte sie nur mit Spott. Und nach ein paar Tagen mit Wut. »Verdammt noch mal, Sarah«, hieß es dann. »Reiß dich gefälligst zusammen.«
In Anbetracht dessen, dass wir unsere Mutter derart schnell verloren hatten und dass es mir nie so ganz gelungen war, mein Leben wieder richtig zusammenzusetzen, schien die Angst vor einer schlimmen Krankheit gar nicht so unvernünftig. Zum Beispiel vor einer Krebserkrankung, die aus dem Nichts kam, aus jedem Winkel meines Körpers nässte und alles vollständig zerfraß.
Nach all den Jahren dachte ich im Grunde nicht mehr andauernd an den Tod meiner Mutter. Ich konnte mich liebevoll an sie erinnern und ihre Fotoalben ansehen. Aber in meinem Innern war immer noch ein Schmerz, den ich bei den merkwürdigsten Anlässen spüren konnte: Es gab Werbespots für Kreuzfahrten, die mich zu Tränen rühr ten; Nachrichten über ausgesetzte Säuglinge; verhungernde Pferde in einer Sendung wie Animal Cops; und natürlich von jeher Phantomkrankheiten, die mich am helllichten Tag wie Albträume heimsuchten.
Denn Krebs überraschte die Menschen tatsächlich und trat beispielsweise am Abend einer großen Beförderung in Erscheinung oder während einer Hochzeitsreise in Pa ris. Es gab unzählige Geschichten von Leuten, die sich selbst das Leben gerettet hatten, weil sie die Erkrankung frühzeitig erwischt hatten. Wachsamkeit, Aufmerksamkeit und sogar Besessenheit konnten sich bezahlt machen. Indem man sich über jede Kleinigkeit Sorgen machte und hinter jeder Ecke mit dem Tod rechnete. Oder indem man seine Schwester dazu brachte, einem die Tumore abzutasten.
Diesen hatte ich beim Duschen entdeckt. Ein Knoten in der Achselhöhle. Genau die Sorte, von der Debra Winger in Zeit der Zärtlichkeit dahingerafft wird – ein Film, den ich niemals hätte anschauen dürfen und bei dem mein Dad einräumte, dass er ihn sich vorab hätte ansehen sollen. Er hatte geglaubt, es ginge um Astronauten, und er war schon immer ein großer Fan von Jack Nicholson gewesen.
An dem Morgen dachte ich: Natürlich . Alles lief derzeit so gut. Zu gut. Abgesehen von der häufigen Kotzerei und der Übelkeit, die den halben Tag andauerte, fühlte ich mich großartig. Ich war verblüfft und dankbar, dass diese Schwangerschaft funktioniert hatte – und alles so einfach gewesen war. Alles hatte wunderbar geklappt und war genau richtig verlaufen. Die Sache musste also einen Haken haben.
Nach der Dusche, auf dem Weg die Treppe hinunter, versuchte ich mir vorzustellen, was mit dem Baby werden sollte. In Gedanken weigerte ich mich, eine Chemotherapie zu machen, um das Kind zu schützen, und sagte Mackie und Clive, dass es jetzt nur um die nächste Generation ginge. In meiner Fantasie war ich nobel, selbstlos und tapfer – und Mackie versuchte verzweifelt, mich zur Vernunft zu bringen. »Du musst dagegen ankämpfen«, flehte sie imaginär.
Aber unten in der Küche sagte die reale Mackie lediglich: »Ich stecke die Finger nicht in deine Achselhöhle.« Sie schnitt Bananen in Scheiben. »Was soll das überhaupt heißen?«, fuhr sie fort. »Du hast Achselhöhlenkrebs?«
»Nein«, sagte ich. »Es ist ein Lymphknoten.«
»Es ist kein Lymphknoten«, sagte sie. »Es ist eine Schweißdrüse.« Sie stellte energisch ein Glas vor mich auf die Arbeitsfläche, und ich wusste, dass wir heute nicht mehr davon sprechen würden. »Trink deinen Saft.«
Ich war über zu viele Krankheiten in Panik geraten, als dass sie mich noch hätte ernst nehmen können. Zu oft hatte ich blinden Alarm geschlagen. Das begriff ich. Ich nahm mich ja nicht mal mehr selbst ernst. Aber ich wollte trotzdem sichergehen.
»Ich werde bloß mal eben meine Symptome googeln«, sagte
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