Eine Schwester zum Glück
deine Eltern?«, fragte ich. Ich hatte damit gerechnet, sie zu sehen.
»In der Arbeit«, sagte April. »Irgendwer muss ja für den Laden hier bezahlen.«
»Was ist mit dem Geld, das du als Model verdient hast?«
»Ach, das.« Sie winkte ab. »Das habe ich alles ausgegeben.«
Der Ententeich war riesengroß und voller Welse, und wir standen am Ufer, während die Führerin den Mädchen er läuterte, dass sie gern so viele fangen, schuppen, ausnehmen und verspeisen konnten, wie sie wollten. Dann zückte die Führerin eine Angelrute und zeigte, wie man sie auswarf.
»Wie geht’s dir heute?«, fragte ich April.
»Besser«, sagte sie. »Und rate mal, was?«
»Was?«
»Ich bin dem Chor beigetreten.«
»Echt?«
Sie nickte. »Wir werden jeden Abend unser Lied für eine Abschlussveranstaltung am Ende unseres Aufenthaltes einstudieren.«
»Welches Lied denn?«
»›Somewhere Over the Rainbow‹.«
Ich rührte mich nicht. »Du machst Witze, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. Keine Witze. »Aber nicht die Version von Kermit«, sagte sie.
»Oh«, sagte ich. »Gut.«
»Möchtest du, dass ich es dir vorsinge?«
Was sollte ich dazu sagen? »Ja, gern.«
Am Welsteich, während die anderen Mädchen allmählich ihre Köder auswarfen, holte April also tief Luft, hob den Blick zu den Wolken, und dann erklang vor der Geräuschkulisse von raschelndem Gras und summenden Libellen ihre leise, klare Stimme. Die hohen Töne traf sie nicht so richtig, aber sie hielt das Ganze langsam und ein fach, wobei sie statt der Wörter, die sie vergessen hatte, »la, la« sang. Falls ich erwartet hatte, dass der Text eine besondere Bedeutung für die Mädchen hier in Rancho Verde haben würde, wurde ich enttäuscht. Doch die Melodie klang wunderschön. Ich hatte sie seit Jahren nicht mehr gehört, und sie schien sich in die Luft zu erheben und um uns her zu flüstern. Ich hatte ganz vergessen, wie süß die Melodie war, und April sah wie ein Engel aus, als das einfache Lied aus ihr emporstieg. Mir traten Tränen in die Augen.
Als sie fertig war, wandte sie sich mir zu. »Was meinst du?«
Ich nickte. »Wunderschön.«
»Es ist ein gutes Lied«, sagte sie. Und dann: »Hast du mal ’nen Kaugummi?«
Ich konnte sie nicht retten. Doch in dem Moment regte sich etwas in mir, und ich musste es versuchen. »Du kannst nach der Klinik nicht zurück nach New York gehen, April«, sagte ich. »New York tut dir nicht gut.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich muss zurück. Ich werde heiraten.«
Ich hatte mir vorgenommen, nie wieder mit J. J. zu reden. Doch auf der Heimfahrt rief ich bei ihm an. Im Büro.
»Hast du ihr einen Heiratsantrag gemacht?«, wollte ich wissen.
»Das war vor Monaten!«, entgegnete er, als könnte die Erinnerung an einen Heiratsantrag mit der Zeit verblassen.
»Du hast ihn nie zurückgenommen?«
»Tja, also.« Seine Tonlage wurde immer höher. »Ich habe Schluss mit ihr gemacht! Sollte das die Sache nicht abgedeckt haben?«
»J. J.«, sagte ich. »Sie ist nicht besonders klug.«
Keine Antwort.
Ich fuhr fort: »Oder ist dir das nicht aufgefallen?«
»Doof in manchen Dingen«, sagte er. »Aber überraschend genial in anderen.«
»Tja, sie glaubt, dass sie kurz davorsteht, Mrs. Dynamite zu werden«, sagte ich. »Welches von beidem ist das nun?«
An dem Punkt wurde die Verbindung getrennt.
Offensichtlich war ich zu nachsichtig mit ihm gewesen. Was um alles in der Welt hatte er sich nur dabei gedacht? Was hatte er dem armen Mädchen sonst noch versprochen? In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, mit was für Dingen er sie noch gelockt haben könnte, mit möglichen Geschenken, Reisen, die er geplant haben könnte, Bewunderung, mit der er sie vielleicht überhäuft hatte – alles Wege, um sie an sich zu binden, trotz sämtlicher Gründe, ihn zu verlassen.
Als er nach einer Sekunde zurückrief, war ich so fuchsteufelswild, dass ich ohne Begrüßung loslegte. Ich nahm das Gespräch auf, wo wir stehen geblieben waren: »Und wenn du das Mädchen auch noch geschwängert hast, du kranker, erbärmlicher Hurensohn, dann such ich dich im Schlaf auf und knall dich eigenhändig ab.«
Nach einer langen Pause am anderen Ende der Leitung kam ich auf die Idee, einen Blick auf die Anruferkennung zu werfen und nach der Nummer zu sehen. Und da erblickte ich die Vorwahl von Houston.
Also sagte ich: »Hallo?«
Dann erklang jene majestätische, unverkennbare Stimme: »Hier spricht Barbara Tierney, und ich hoffe inständig, dass ich
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