Eine Schwester zum Glück
ihr in den Ohren nachklangen – und obwohl Menschen wie ich zum Teil schuld daran waren, dass Mädchen wie sie an diesen Orten endeten –, fiel es mir derzeit schwer genug, selbst nicht unterzugehen. Mich auf ein Projekt wie Veronica Lockes geistige Gesundheit einzulassen war eine todsichere Methode, alle zum Kentern zu bringen.
Als ich mich wieder auf den Weg machte, war sie tatsächlich so aufgedreht, dass ich mir sogar den Gedanken erlaubte, ich müsste vielleicht gar nicht wiederkommen. Es schien Veronica viel besser zu gehen. Diese Einrichtung schien gut zu funktionieren. Und da das Gerücht umging, die Wachhunde würden jeden zerfleischen, der zu fliehen versuchte, würde Veronica bestimmt nirgendwohin gehen. Sie war, wo sie hingehörte, sagte ich mir, und nun konnte ich sie den Profis überlassen.
Und dennoch: Als Clive am Montagmorgen verkündete, er würde den Tag zu Hause arbeiten, war mein erster Gedanke, dass ich mir den Prius ausleihen könnte. Mein zweiter Gedanke war, dass er beim Müsliessen schmatzte. Und wie unattraktiv das war. Und dass er an dem Morgen irgendwie pummelig aussah, in diesem schrägen Lichteinfall – und dass er so was von offensichtlich niemand war, für den man schwärmte. Ich konnte mich bei Everett Thompson nur dafür bedanken, dass er mich wachgerüttelt hatte.
»Darf ich mir deinen Wagen ausleihen?«, fragte ich Clive.
»Sicher«, schmatzte er.
»Wofür denn?«, wollte Mackie wissen. Sie hatte den Löffel in ihrer Tasse gelassen, und jedes Mal, wenn sie einen Schluck trank, rechnete ich damit, dass er ihr ins Auge stechen würde.
»Ich muss was erledigen«, sagte ich. Zu dem Zeitpunkt, nachdem wir nun schon seit Dezember zusammenwohn ten, erzählte ich ihr beinahe nichts mehr über mein Leben. In nicht mehr als einem halben Jahr war sie von einem Menschen, mit dem ich alles besprach, zu jemandem geworden, dem ich so gut wie nichts mehr von mir mit teilte. Ich war mir dessen jede Minute bewusst, die ich mit ihr verbrachte, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich es ändern sollte. Es war einfach so.
Als ich wieder in der Rancho-Verde-Klinik eintraf, war Veronica nicht so leicht zu finden wie beim ersten Mal. Die Eingangshalle war leer, und ich musste an der Rezeption nach ihr fragen.
»Wir haben niemanden dieses Namens hier«, sagte die Empfangsdame.
»Aber sicher«, meinte ich zu ihr. »Ich habe sie gestern erst besucht.« Doch ich spürte Panik in mir aufsteigen. Hatte sie sich mit einem Kopfkissen erstickt? War sie mit Mr. Dynamite nach Mexiko durchgebrannt? Oder von den Wachhunden zerfleischt worden?
Ich deutete auf den Sessel, in dem sie tags zuvor ge sessen hatte. »Ich habe genau da gesessen und habe mich über zwei Stunden mit ihr unterhalten.«
Die Empfangsdame spähte mit zusammengekniffenen Augen hinüber. Dann sagte sie: »Sie meinen April? Haben Sie sich nicht mit April unterhalten?«
»Ähm«, sagte ich. »Ich dachte, ich hätte mich mit Vero nica Locke unterhalten.«
»Spindeldürres Mädchen?«, meinte die Empfangsdame. »Aufgesprungene Lippen?«
»Das ist sie.« Ich nickte.
»Tja, das ist April May Schneider.«
Die Empfangsdame sah sich in ihrem Computer Aprils Therapieplan an und schickte mich dann zu den Stallungen. Dankbar um die laxen Sicherheitsvorschriften und die texa nische Aufgeschlossenheit schenkte ich ihr ein Lächeln und sagte: »Vielen Dank, Ma’am.«
Zu den Stallungen gelangte man vom Hauptgebäude aus über einen langen Kiesweg. April und eine Gruppe anderer Mädchen machten gerade einen Einführungsrundgang, und während ich ihnen folgte, erfuhr ich, dass von ihnen allen während ihres Aufenthalts erwartet wurde, sich mit um die Tiere zu kümmern. Zu ihren Pflichten gehörten unter anderem das Ausmisten der Ställe, das Ein sammeln von Eiern und das Striegeln, Melken und Füttern eines ganzen Aufklapp-Bilderbuches voller Tiere auf dem Bauernhof.
Mir gefiel die Philosophie dahinter: Es ist gut für das seelische Gleichgewicht, Zeit im Freien zu verbringen. Und der Mensch kann von Tieren viel über Würde lernen. Wenn man sich um andere kümmert, ist das genau das Gleiche, wie sich um sich selbst zu kümmern. Diese Art von Therapie erschien mir viel vernünftiger, als Judy-Garland-Lieder zu trällern.
Als die Gruppe auf den Ententeich zusteuerte, bemerkte April mich und wartete, bis ich sie eingeholt hatte.
»Hi, April.« Ich fragte mich, ob ihr der Namenswechsel auffiel.
»Hi«, sagte sie. Es fiel ihr nicht auf.
»Wo sind
Weitere Kostenlose Bücher