Eine skandalöse Lady: Roman (German Edition)
die mehr Raffinesse mitbrachten. Allerdings ohne diese Theorie bislang allzu oft zu überprüfen.
Bisweilen kam sie sich wie eine Heuchlerin vor. Regina Daudet, die exzentrische Halbschwester des Viscount Altea, die in den höheren Kreisen der Gesellschaft wegen ihrer Lebensweise mindestens ebenso scheel angesehen wurde wie wegen ihrer illegitimen Herkunft, war nicht annähernd so unkonventionell, wie alle glaubten. Trotzdem tat sie nichts, um diesen Ruf zu korrigieren, obwohl ihr Bruder Luke ihr mehr als einmal angeboten hatte, seinen Einfluss geltend zu machen. Es war ihr nicht so wichtig, zu den exklusivsten Veranstaltungen eingeladen zu werden und in höchsten Adelskreisen zu verkehren.
Lediglich an der Beziehung zu ihrem Vater hatte ihr viel gelegen. Und obwohl er ihr nie seinen Namen gab, verband ihn mit seinem ältesten Kind eine ganz besonders liebevolle Zuneigung, an der selbst Lukes Geburt nichts änderte. Zwischen ihr und der Frau ihres Vaters entwickelte sich im Laufe der Jahre ein zwar distanziertes, wiewohl spannungsfreies Verhältnis. Lady Altea hatte Regina, das Ergebnis einer früheren Liaison des Viscount, als Familienmitglied akzeptiert. Nicht alle Damen von Stand wären zu solcher Großmut fähig gewesen, und genau solche Vertreter der Aristokratie waren es, die schon das kleine Mädchen zu verabscheuen lernte.
Als nach dem Tod des Vaters dann ein beträchtliches Erbe für sie anfiel, sah sie sich imstande, ein unabhängiges Leben zu führen, ohne Rücksicht auf die Meinung der Gesellschaft nehmen zu müssen. Sie beschloss, nicht zu heiraten, ging hin und wieder eine Beziehung ein, hielt ihre Liebhaber jedoch stets auf Abstand und genoss ihre Freiheit.
Und nie hatte sie einem Mann einen Blick auf ihre neueste Arbeit gewährt.
Bis James Bourne kam.
Sie schaute zum Bett hinüber und sah, dass er ebenfalls aufstand. Wortlos reichte sie ihm einen dunkelblauen Morgenrock, der über einem Stuhl lag, und er nahm ihn mit einem ironischen Lächeln. Es fiel ihr nicht schwer, den leicht ironischen Zug um seinen Mund zu interpretieren, als er das Kleidungsstück nahm. Sie bezweifelte nicht, dass er sich fragte, wer ihn wohl hiergelassen haben mochte.
Vielleicht würde sie ihm eines Tages erzählen, dass sie ihn für ihren Vater als Geburtstagsgeschenk gekauft hatte. Bevor sie es ihm allerdings geben konnte, war der Viscount todkrank geworden und gestorben. Im Augenblick aber sollte James ruhig glauben, dass es sich um die Hinterlassenschaft eines früheren Liebhabers handelte. Jedenfalls verspürte sie keinerlei Lust, diesen Irrtum aufzuklären.
Das tut sie generell selten, nicht mal ihrer Familie gegenüber. Und eigentlich verstand sie nicht, warum sie den Morgenrock überhaupt hervorgeholt hatte.
Weil du nicht willst, dass James sich anzieht und dann geht.
Regina seufzte. Dieser Mann brachte ihr Leben in Unordnung. Weil sich diese Beziehung entgegen ihren Erwartungen nicht wie ihre früheren kurzen Affären entwickelte, denn zu ihrer eigenen Überraschung war sie seiner noch nicht überdrüssig geworden. Im Gegenteil: Sie war fasziniert von ihm. Vielleicht hatte sie ihm deshalb angeboten, einen Blick auf ihr neuestes Werk zu werfen, und ihm deshalb auch gestattet, den Morgenmantel ihres Vaters zu tragen.
»Hier entlang.« Sie ging voraus und trat durch eine Tür, ohne zurückzublicken. Ihr Atelier befand sich im Erdgeschoss des Hauses und lag nach hinten hinaus. Ursprünglich als Salon vorgesehen, verfügte der Raum über hohe Fenstertüren, die in den Garten führten. Bis zum Tod des Vaters war es Lukes Junggesellendomizil gewesen, doch als neuer Titelträger siedelte er auf den Familiensitz über und überließ ihr das hübsche Stadthaus. Sie hatte sich sehr darüber gefreut. Nicht nur weil das Haus elegant war und in einer gefragten Wohngegend lag, sondern vor allem wegen dieses einen Raumes, das Atelier, in dem sie den ganzen Tag bei natürlichem Licht malen konnte. Zum Entsetzen der Haushälterin hatte sie die gesamte Einrichtung des Salons auf den Dachboden schaffen lassen und stattdessen Staffeleien und Regale für ihre Farben aufgestellt, dazu ein paar abgewetzte Sessel. Dort arbeitete sie jeden Nachmittag ohne Unterlass, es sei denn, der Tag war wirklich trüb.
Die Größe des Raumes und die spärliche Möblierung, der nackte Holzboden gefielen ihr, weil nichts sie ablenkte. Gelegentlich, wenn sie bei einem Bild nicht weiterwusste, wanderte sie mit nackten Füßen auf und ab oder setzte
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