Eine skandalöse Lady: Roman (German Edition)
sich mit ihrem farbverschmierten Arbeitskittel in einen der alten Ohrensessel und starrte nachdenklich aus dem Fenster.
Es war ein ruhiger Ort, und im Gegensatz zu den meisten anderen Leuten gefiel ihr das Durcheinander aus Ölfarben, Pinseln, Lappen und verklebten Paletten. Es war eine inspirierende Atmosphäre, um sich auf ihre kreative Arbeit zu konzentrieren.
Das Bild, das sie James zeigen wollte, war ihr leicht von der Hand gegangen, vom ersten Farbtupfer an – einfach so aus dem Kopf auf die Leinwand geflossen. Es war noch nicht vollständig fertig, aber die zentrale Figur fast vollendet, desgleichen der ätherische Hintergrund aus Nebel und Wald. Ihr gefiel besonders das Motiv des einzelnen Lichtstrahls, der durch die Wolkendecke brach und auf die Lichtung fiel.
Der Regen vom frühen Abend hatte aufgehört, und durch das Fenster drang genug Mondlicht, um sich durch den Raum zu der Lampe zu tasten. Sie bewegte sich langsam und zögernd, weniger wegen der Dunkelheit, sondern weil sie unsicher war, ob sie ihren Liebhaber wirklich in ihr Heiligtum einladen sollte. Sie zündete eine Lampe an und hielt sie ihm entgegen. »Das ist es«, murmelte sie und deutete auf die Staffelei. »Was denkst du?«
James nahm die Lampe und trat näher. Das Licht tanzte über die Leinwand.
Weiß er überhaupt, wie viel mir das alles bedeutet?
Sie musterte ihn. Seine Haare schimmerten hell, und sie sah, dass seine Züge gelöst, fast heiter wirkten. Trotzdem wusste sie seine Miene nicht wirklich zu entschlüsseln.
»Die Arbeit ist wirklich großartig«, sagte er endlich. »Darf ich eine Vermutung anstellen?«
»Eine Vermutung?« Regina verschränkte die Arme über der Brust und hob fragend eine Braue.
»Was du damit zum Ausdruck bringen willst.«
»Warum glaubst du, dass ich etwas Bestimmtes im Sinn hatte?«
»Wenn man etwas so Wunderbares erschafft, dann will man damit etwas zeigen.«
Sie hatte schon immer die Befürchtung gehegt, er würde nicht nur etwas von Kunst und Maltechniken verstehen, sondern auch etwas vom Kunstschaffen selbst, von dessen Intentionen. Vielleicht fühlte sie sich deshalb so sehr zu ihm hingezogen. Ihre Neugier war geweckt. »Tu dir keinen Zwang an und stell Vermutungen an.«
»Vielen Dank.« Er dachte einen Moment nach und runzelte dabei leicht die Stirn. »Du musst die Umgebung kennen. Die einzelnen Elemente sind so detailliert ausgearbeitet, dass ich förmlich das Flüstern des Laubes hören kann.«
Regina erwiderte nichts, wartete bloß.
»Die Figur in der Mitte des Bildes finde ich hochinteressant.« James hob die Lampe höher. »Der Mann sieht erschöpft aus. Die Armbrust hängt herunter, aber zugleich liegt in seinem Blick eindeutig Entschlossenheit. Er hat eine Aufgabe zu bewältigen, irgendwas. Obwohl er müde ist, muss er sie angehen – er weiß das. Er ist ein gewöhnlicher Mann, der unter außergewöhnlichen Umständen leidet und trotzdem seine Pflicht tut.«
Es dauerte einen Moment, ehe sie sprechen konnte, weil ihr die Kehle eng wurde. »Sprich weiter. Ich bin immer begierig zu erfahren, was die Menschen aus meiner Arbeit herauslesen.«
»Eigentlich will er es nicht tun. Deshalb zögert er und hält die Armbrust zum Boden gerichtet. Seine Schultern verraten Anspannung, doch fürchtet er nicht um sich selbst. Habe ich recht?«
Er hatte so sehr recht, dass sie ihn am liebsten geküsst hätte. Das hatte sie noch nie getan, zumindest nicht als Ausdruck von Zuneigung und tiefem Verständnis. Natürlich küssten sie sich beim Sex, aber außerhalb des Bettes war das kein Thema. Bisher. Nie hätte sie sich vorstellen können, jemals diesen Wunsch zu verspüren, überhaupt einem Mann auf diese Weise zu verfallen. Aber James schien für Überraschungen jeglicher Art gut.
»Du bist ziemlich nahe dran«, bestätigte sie.
»Es gibt da diese Geschichte von Wilhelm Tell, dem Schweizer Nationalhelden. Er war, soviel ich weiß, nur ein einfacher Mann.« James blickte zu ihr auf. »Wenn ich mich richtig erinnere, wurde er gezwungen, mit der Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schießen. Ich dachte früher immer, dass müsste eine großartige Tat und Tell riesig stolz gewesen sein. Im Grunde war es wohl eher schrecklich. Dieses Risiko … Ein gewöhnlicher Mann, der über seine Grenzen hinauswachsen muss, weil die Umstände ihn dazu zwingen.«
Sie räusperte sich. Er hatte absolut recht. Ursprünglich hatte sie jenen Moment einfangen wollen, als Tell die Armbrust hob und den Pfeil
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