Eine skandalöse Lady: Roman (German Edition)
abschoss, dann aber, als sie mit dem Malen begann, stattdessen das Zögern vor diesem schicksalhaften Schuss eingefangen. Weil sie die Entscheidung viel mehr interessierte als die Tat selbst. Die Frage, was Tell in diesem Augenblick bewegte, wie er es schaffte, diese entsetzliche Aufgabe zu übernehmen.
Und James hatte das alles einfach so aus ihrem Gemälde herausgelesen. Das machte sie nervös.
»Die Geschichte hat mich schon immer fasziniert«, gab sie zu.
Er blickte auf. »Ich finde, du bist ihm und seinem inneren Zwiespalt gerecht geworden.«
»Ich habe mich dagegen entschieden, seinen Sohn mit aufs Bild zu nehmen.« Sie trat zur Staffelei. »Es geht nicht darum, dass er keinen Fehler machen darf, weil sonst sein Sohn unausweichlich stirbt – nein, wichtiger war mir die Entscheidung, ob er überhaupt schießen soll. Ich wollte diesen persönlichen Konflikt einfangen, bei dem es ebenso um das Vertrauen in seine Fähigkeiten geht wie um die Möglichkeit seines Scheiterns. Ein sehr menschliches Dilemma, in das wir alle immer wieder geraten.« Sie schwieg und betrachtete nachdenklich den Gesichtsausdruck der Figur auf ihrem Gemälde. »Wenn er falsch entscheidet, zahlt er mit dem Liebsten, was er besitzt.«
»Oh, in der Tat.« James zeigte auf einen Apfelbaum im Hintergrund des Bildes, der mit den anderen Bäumen verschmolz. »Das ist eine hübsche Anspielung auf den Garten Eden und den Sündenfall. War das deine Absicht?«
Sie war sich nicht sicher. Ja und Nein. Es ging ihr um das Leben in seiner ganzen Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit, in dem der Mensch sich bewähren musste, und natürlich gehörte der mögliche Sündenfall dazu. Sie wollte die Problematik mit den Mitteln der Kunst abbilden, und manchmal kam sie sich dabei wie eine distanzierte Beobachterin vor.
James hingegen schien selbst mitten im Leben zu stehen und völlig mit sich im Reinen zu sein, ohne dass es selbstgerecht oder arrogant wirkte. Vielleicht machte ihn gerade diese Aura eines unaufdringlichen, ganz natürlichen Selbstbewusstseins so attraktiv. Auf jeden Fall sprach sie sie intellektuell an. Ihr schien, dass James mehr für sie zu werden begann als ein talentierter Liebhaber, denn nie zuvor hatte sie sich einem Mann je so nahe gefühlt, abgesehen vielleicht von ihrem Vater und Luke.
Er sah sie noch immer fragend an, doch sie zuckte bloß mit den Schultern. Erneut fragte sie sich, ob es wirklich so klug gewesen war, ihn in ihr Atelier zu lassen und ihm einen Blick in ihr Inneres zu gestatten. Jedenfalls nicht, wenn sie diese Beziehung nicht vertiefen, sondern sie irgendwann lösen wollte. Dann war das bestimmt der völlig falsche Weg, und sie sollte ihn lieber heute als morgen fortschicken.
Dazu allerdings war sie nicht bereit.
Regina setzte sich in einen der Sessel, wobei sich ihr Morgenrock leicht öffnete. Mit Absicht. »Wollen wir wirklich weiter über biblische Interpretationsmöglichkeiten meiner künstlerischen Bemühungen reden? Sollten wir uns nicht lieber wieder den handfesteren Seiten eines Sündenfalls zuwenden?«
Er grinste. »Ich bin für Letzteres.«
Kapitel 5
Im Licht des neuen Tages wirkte das kleine Abenteuer des gestrigen Abends geradezu fantastisch. Wie eine Szene aus einem Liebesroman mit allem, was dazugehört: einem gut aussehenden Prinzen, Gefahr, einer Flucht auf geheimen Wegen und schließlich einer dramatischen Rettung.
Allerdings war Damien Northfield in ihrem Fall gar kein Prinz, sondern ein zynischer ehemaliger Spion mit eher zwielichtigen Fähigkeiten wie zum Beispiel dem geschickten Umgang mit einem Dietrich, überlegte Lily, während sie vorsichtig einen Schluck ihrer heißen Schokolade nahm.
Außerdem war die Gefahr eher gesellschaftlicher Natur und keine Bedrohung für Leib und Leben gewesen und der dunkle, schmutzig-feuchte Geheimgang so ziemlich der unromantischste Ort, den man sich vorstellen konnte. Überdies kannte sie keine Geschichte, in der die Heldin – eine Rolle, für die sie ohnehin nicht taugte – vor den Augen eines Mannes, den sie nicht kannte, das Kleid auszog. Rückblickend konnte sie sowieso nicht glauben, dass sie das getan hatte. Andererseits hatte die vertrackte Situation vermutlich nur deshalb ein glückliches Ende genommen. Wäre sie hingegen mit Kleid in der Bibliothek geblieben … Lily durfte gar nicht daran denken.
Sie hatten es geschafft, waren heil davongekommen nach einer schier unglaublichen Häufung von dummen Zufällen, die sie überhaupt erst in
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