Eine skandalöse Lady
Hayden mochte vielleicht der Herr dieses Gebäudes sein, aber sie würde bald schon dessen Herrin sein.
Selbst an Sterlings Standards gemessen, war das im elisabethanischen Stil erbaute Herrenhaus mit seinen weitläufigen Seitenflügeln und dem Hof in der Mitte beeindruckend. Obwohl das steile Dach von einem Gewirr aus Ziegelschornsteinen überzogen war, stiegen daraus nur ein paar wenige Rauchfahnen empor, um sich mit den Wolken zu vereinen. Ohne Sonnenlicht, das sich darin spiegeln konnte, blickten die unzähligen Sprossenfenster dumpf und gelangweilt wie halb geschlossene Augen auf ihre Umgebung. Das Haus schien nicht tot zu sein, sondern einfach unter demselben Bann zu stehen wie der gequälte Himmel und das windgepeitschte Moor. Lottie erschauerte und fragte sich, ob die Sonne wohl jemals an diesem Ort scheinen würde.
Während die Kutsche schaukelnd zum Stehen kam, schwang die Haustür auf, und mehr als zwei Dutzend Dienstboten kamen heraus, bildeten ein Spalier, um ihren Herrn und dessen Frau willkommen zu heißen. Lottie wunderte sich, weil es so wenige waren. Für ein Haus von dieser Größe müsste die Dienerschaft mindestens doppelt so viele Köpfe zählen.
Sie hatte nie unter Schüchternheit gelitten, aber plötzlich zögerte sie, die schützende Gemütlichkeit der Kutsche zu verlassen. Die Braut eines Marquis zu sein war eine Sache, aber ihren Platz als seine Frau einzunehmen, eine völlig andere. Sie ließ sich Zeit, die Katzen in den Korb zu packen, die Falten aus ihren Röcken zu streichen und ihren Hut gerade zu rücken. Schließlich wurde der Kutschenschlag geöffnet. Doch nicht der Kutscher oder ein Lakai hielten ihr hilfreich die Hand hin, sondern Hayden selbst.
Ein tapferes Lächeln aufsetzend, ergriff sie seine Hand und stieg aus. Die langen Schürzen der Hausdiener flatterten im Wind, und Lottie war gezwungen, ihren Hut mit der anderen Hand festzuhalten. Als sie sich dem Haus näherten, betrachtete Hayden angespannt die Reihe der Dienstboten. Neben ihrer knappen Zahl konnte Lottie nichts Besonderes an ihnen entdecken, das diese Anspannung erklärt hätte. Von dem ehrwürdigen Butler und der hoch gewachsenen, dürren Haushälterin mit dem schweren Schlüsselring an ihrer Hüfte bis zu den Lakaien und den errötenden Dienstmägden mit den frischen Apfelbäckchen sahen sie genauso aus wie die Dienerschaft eines ganz gewöhnlichen Herrenhauses eines beliebigen Adeligen.
»Willkommen zu Hause, Mylord«, begann der Butler und trat vor. »Die Wagen mit dem Gepäck sind bereits eingetroffen und ausgeladen.«
»Sehr gut, Giles«, antwortete Hayden, doch seine Miene entspannte sich nicht.
Mehrere der jüngeren Dienstmädchen starrten Lottie mit unverhohlener Neugier an. Sicherlich hatte Hayden die Diener, die mit dem Gepäck vorausgesandt worden waren, angewiesen, den Rest der Dienerschaft auf die Ankunft seiner Frau vorzubereiten.
Oder nicht?
Ehe er mit der förmlichen Vorstellung beginnen konnte, kam eine füllige, sonnengebräunte Frau, deren Äußeres verblüffend an ein Rebhuhn erinnerte, um die Ecke des Hauses. Ihre Ankunft wäre nicht weiter bemerkenswert gewesen, wenn sie nicht in Begleitung eines Mädchens von etwa zehn Jahren gewesen wäre … das sie am Ohr mit sich zog.
Hayden erstarrte, und Lottie konnte nicht anders, als die beiden anzustarren. Die Diener gönnten dem Schauspiel keinen zweiten Blick, fast so, als gehörte es zu den Dingen, die sie alle Tage erlebten.
Obwohl es sein Kinn trotzig vorgereckt hatte, verzog das Mädchen keine Miene und äußerte keinen Laut des Protests, als sie von der Frau an den Dienern vorbei direkt vor Hayden geschleppt wurde. Die Frau legte dem Mädchen die Hände auf die Schultern, um sie daran zu hindern, einfach wegzulaufen.
Das Kind war groß gewachsen, aber furchtbar dünn, hatte scharfe Züge, die eines Tages als apart bezeichnet werden würden. Ihre Mähne dunklen Haares war das Auffälligste an der Kleinen; es umrahmte ihr Gesicht wie eine Hecke, der man es gestattet hatte, ungehindert zu wuchern. Lottie juckte es in den Fingern, einen Kamm und ein Band zu nehmen und das Wirrwarr zu bändigen, obwohl mit einer Harke und einem Seil vermutlich ein besseres Ergebnis zu erzielen wäre. Wenn Cookie hier wäre, würde sie gewiss darauf beharren, das Kind mit Gingerbrot und Plumpudding aufzupäppeln, bis es mehr Fleisch auf den Knochen hatte.
Obwohl es schien, als hätte sich jemand große Mühe gegeben, das Mädchen präsentabel zu machen,
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