Eine skandalöse Lady
Hayden, und seine Miene wurde weicher.
Obwohl er einen der Lakaien mit der Aufgabe hätte betrauen können, ging er selbst zu der Kutsche zurück und öffnete den hinteren Kutschkasten. Zualleroberst in dem geräumigen Staufach befand sich der geheimnisvolle Kasten, der Lotties Neugier geweckt hatte, seit sie ihn zum ersten Mal erblickt hatte. Während Allegra mit misstrauischer Gleichgültigkeit verfolgte, wie ihr Vater damit zu ihr zurückkehrte, biss sich Lottie vor Spannung auf die Unterlippe.
Auf Haydens Zuruf trat ein Lakai vor und hielt den Kasten fest, während Hayden einen kleinen Goldschlüssel aus seiner Westentasche zog und ihn in das Schloss steckte. Lottie und die Dienstboten verrenkten sich die Hälse, als er den Deckel öffnete, sodass Allegra hineinsehen konnte.
Lottie konnte ein entzücktes Aufkeuchen nicht unterdrücken. Statt eines abgeschlagenen Kopfes ruhte auf dem Samtfutter eine der schönsten Puppen, die Lottie je gesehen hatte. Sie trug ein lavendelfarbenes Kleid aus getupfter Schweizer Baumwolle, mit rosa Blümchen bestickt, Seidenstrümpfen und einem Paar zierlicher Ziegenlederstiefelchen. Ihr volles zobelschwarzes Haar fiel in schimmernden Locken auf ihre Schultern. Ein Meister seines Faches hatte ihre zarten Züge geformt und bemalt. Ein Lächeln spielte um ihren Rosenknospenmund, während ihre violetten Augen übermütig unter den dichten Wimpern zu funkeln schienen.
Lotties Blick wanderte langsam zwischen der Puppe und Allegra hin und her. Hayden hatte offenbar weder Kosten noch Mühen gescheut, eine exakte Miniatur seiner Tochter anfertigen zu lassen – nicht das Kind, das sie war, sondern die Frau, die sie eines Tages sein würde.
Hayden wartete so gespannt auf Allegras Reaktion, dass Lottie hätte schwören können, er atme nicht. Allegra blickte mit ausdrucksloser Miene unverwandt in den Kasten. Die Stille zog sich in die Länge, bis Lottie es nicht länger ertrug.
»Was für ein herrliches Stück!«, rief sie aus und lächelte Allegra an, während sie eine Hand ausstreckte, um die Puppe an der Wange zu berühren. »Himmel, sie sieht genauso aus wie du!«
»Seien Sie nicht so dumm«, entgegnete das Mädchen und warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Sie sieht überhaupt nicht so aus wie ich. Sie ist schön.«
Mit diesen Worten riss sie sich von Martha los und rannte mit wehenden Haaren davon. Dieses Mal versuchte niemand, sie aufzuhalten. Die Diener musterten entweder angelegentlich die Spitzen ihrer Schuhe oder starrten stur geradeaus.
Hayden beobachtete, wie seine Tochter um die Hausecke verschwand, seine Miene ebenso versteinert wie die des Kindes.
Obwohl sie nicht hätte sagen können, was sie dazu trieb, so kühn zu sein, drückte ihm Lottie tröstend den Arm. »Nimm dir ihre Worte nicht zu sehr zu Herzen. Ich war als Kind auch ausgesprochen altklug.«
»Das bist du immer noch«, antwortete er kurz angebunden, klappte den Deckel des Kastens zu und drückte ihn ihr in den Arm. Ehe Lottie etwas erwidern konnte, hatte er schon auf dem Absatz kehrtgemacht und war ins Haus gegangen.
»Nehmen Sie es dem Herrn nicht übel«, sagte Martha zu Lottie, als sie ihr voran die breite, geschwungene Treppe in den zweiten Stock des Hauses emporstieg. »Sogar als Junge hatte er einen Hang zu unbedachten Äußerungen.«
»Sie kannten ihn als Kind?«, erkundigte sich Lottie und fuhr mit ihrem Finger über die eiserne Balustrade.
»Ja. Ich war sein Kindermädchen, wissen Sie. Seines und das seines Vaters davor, Friede seiner Seele«, fügte die Frau hinzu und bekreuzigte sich rasch über ihrem beeindruckenden Busen. »Da er sein einziges Kind und Erbe war, war Master Hayden immer der Augapfel seines Vaters. Ich habe mir oft gedacht, es war ein wahrer Segen, dass sein Vater und seine Mutter gestorben sind, bevor er sich entschloss, dieses launische französische Mädchen zu heiraten. Der Skandal hätte sie vermutlich umgebracht.«
Ein Segen für wen, fragte sich Lottie und musterte die Frau von der Seite. Gewiss nicht für Hayden, der sich allein der gesellschaftlichen Ächtung stellen musste.
Martha schien keine Bedenken zu haben, die Pflichten der Haushälterin zu übernehmen. Zum Beispiel, die junge Braut zu ihren Räumen zu geleiten, nachdem ihr Bräutigam sie schmählich im Stich gelassen hatte.
Trotz der weißen Strähnen, die ihr braunes Haar durchzogen, hatte die ältere Frau eine für ihr Alter schier unerschöpfliche Energie. Selbst wenn sie stillstand, schien sie
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