Eine skandalöse Lady
spöttischer Miene.
Ehe Hayden widersprechen konnte, ging Ned an ihm vorbei ins Haus, blieb stehen und wirbelte seinen Spazierstock geschickt zwischen den Fingern. Er sah fast noch genauso aus wie der zwölfjährige Junge, den Hayden vor all den Jahren in Eton kennen gelernt hatte – eine langgliedrige Gestalt, die vom Kopf mit dem modischen Haarschnitt bis zu den glänzend polierten Wellingtons an seinen Füßen tadellos gepflegt war.
»Komm doch bitte herein«, bemerkte Hayden trocken.
»Danke. Ich glaube, das werde ich.« Ned drehte sich einmal im Kreis und klopfte dabei mit der Spitze seines Stockes auf das Eichenparkett. »Ich konnte nun wirklich nicht zulassen, dass du dich aus London fortstiehlst, ohne mich zu sehen. Vielleicht hat dein Butler versäumt, es dir zu sagen, aber ich habe an jedem einzelnen Tag der vergangenen Woche vorgesprochen. Leider hat mich bislang keine Antwort von dir erreicht.« Sein Blick blieb an einem Tischchen hängen, auf dem eine silberne Schale stand, die vor Visitenkarten und Einladungen auf edlem Pergamentpapier überquoll – allesamt ungeöffnet. »Ah … nicht der Butler ist schuld, sondern ich. Ich habe mich zu sehr auf die Manieren verlassen, die deine Mutter dir beigebracht hat, Gott sei ihrer Seele gnädig.«
Hayden lehnte sich gegen die Tür und verschränkte die Arme vor der Brust. Er weigerte sich, schuldbewusst auszusehen. »Meine Mutter hat mir beigebracht, dass es von schlechten Manieren zeugt, sich in die Angelegenheiten anderer einzumischen.«
Ned beachtete ihn nicht weiter, nahm einen Packen Einladungskärtchen und begann, sie durchzusehen. »Lady Salisbury. Lady Skeffington. Die Herzogin von Barclay.« Er schaute Hayden mit hochgezogenen Brauen an. »Die hier stammen alle von äußerst angesehenen Gastgeberinnen. Sag mir – was für ein Gefühl ist es, einmal mehr einer der begehrtesten Junggesellen Londons zu sein?«
Hayden nahm ihm die Karten aus der Hand und warf sie in die Schale zurück. »Ich habe kein Interesse an der Gesellschaft von Leuten, die sich auf ihre guten Manieren etwas einbilden, nicht aber auf ihre Freundlichkeit und Güte. Sie suchen keinen vierten Teilnehmer in ihrem Kartenspiel und keinen Tanzpartner für ihre Töchter beim Walzer. Sie laden mich ein, damit ihre Gäste etwas zu flüstern haben hinter ihren Fächern und Zigarren – ein Kuriosum, um es zu begaffen und um über es herzuziehen.«
»Ach ja, genau, der ›Mörderische Marquis‹. In den Zeitungen und Skandalblättchen gibt er den Erzschurken ab, nicht wahr? Es ist erstaunlich, dass ich den Mut zu einem Besuch aufbringen konnte.« Ned studierte angelegentlich seine sorgfältig manikürten Fingernägel. »Aber da ich nicht vorhabe, mit irgendeiner deiner zukünftigen Ehefrauen zu schlafen, brauche ich mir wohl keine Sorgen zu machen, dass du mich zum Duell fordern könntest oder so in Wut gerätst, dass du mit dem Marmeladenlöffel auf mich losgehst.«
Hayden versteifte sich, getroffen von den unverblümten Worten seines Freundes. »Das musst du auch nicht. Ich habe nicht vor, erneut zu heiraten.«
»Das tut mir Leid.« In Neds kühlen grauen Augen stand Bedauern, kein Mitleid. »Du warst der ergebenste, liebevollste Ehemann, den sich eine Frau nur wünschen kann.«
Einen Augenblick lang schwiegen sie beide. Dann blitzten Neds Zähne auf, fast wie bei seinem Lächeln früher. »Komm und geh mit mir aus, heute Nacht, Hayden! Harriette Wilson ist von dem Herzog von Beaufort ausbezahlt worden und hat sich in Paris zur Ruhe gesetzt, von wo aus sie alle Welt mit ihren Memoiren foltert, aber ihre Schwestern sind noch hier und wissen genau, wie man Feste feiert. Wir können uns betrinken, uns ein leichtes Mädchen besorgen und so tun, als wären wir wieder achtzehn und frisch aus Eton. Komm mit mir! Du wirst sehen, es wird wieder genauso wie früher werden.«
Trotz Neds anders lautender Beteuerungen wussten sie natürlich beide genau, dass es nie wieder so sein würde wie früher. Statt drei ungestümer, gut aussehender, junger Männer, die die unerlaubten Vergnügungen der Großstadt erkundeten, würden sie nur zu zweit sein.
Hayden kramte aus den Tiefen seiner Erinnerung ein Lächeln hervor. »Ich fürchte, du wirst die liebreizenden Wilson-Schwestern heute Nacht allein umwerben müssen. Ich habe vor, bald zu Bett zu gehen, damit ich morgen schon früh nach Cornwall aufbrechen kann.«
Ned spähte in den düsteren Raum hinter sich. »Ich ertrage den Gedanken nicht, dass
Weitere Kostenlose Bücher
Die vierte Zeugin Online Lesen
von
Tanja u.a. Kinkel
,
Oliver Pötzsch
,
Martina André
,
Peter Prange
,
Titus Müller
,
Heike Koschyk
,
Lena Falkenhagen
,
Alf Leue
,
Caren Benedikt
,
Ulf Schiewe
,
Marlene Klaus
,
Katrin Burseg