Eine skandaloese Liebesfalle
Manchmal stand sie besonders früh auf und ging spazieren, bis sie an die Küste kam; dann brachte sie eine Muschel oder ein Stück Treibholz für Tante Rachel mit. Manchmal nahm sie dreißig Bücher mit auf ihr Zimmer und genoss das Wissen, dass niemand sie ihr wegnehmen würde.
Nach dem ersten Aufflackern von Angst am Tag von Edmund Douglas’ Verhaftung blühte auch Tante Rachel auf. Ihr Laudanum-Verbrauch war um ein Viertel zurückgegangen. Ihr Appetit, der immer noch eher zu einem Vögelchen passte als zu einer erwachsenen Frau, war für ihre Verhältnisse gewaltig. Und als Elissande sie mit einer Ausfahrt nach Dartmouth überraschte, hatte sie alles mit kindlichem Staunen aufgenommen, als entdeckte sie eine Welt, von deren Existenz sie gar nichts gewusst hatte.
Kurz, sie waren so glücklich, wie sie es nie zuvor gewesen waren. Besonders Elissande konnte das von sich behaupten.
Wenn sie nur sicher sein könnte, dass ihr Ehemann ihre Zufriedenheit teilte!
Er wirkte so wie immer: ausgeglichen, freundlich und langatmig, aber oft geistig schwerfällig. Sie hatte begonnen, seine Fähigkeit zu bewundern, aus dem Stegreif Abhandlungen in Vortragslänge zu fabrizieren, die fantastisch, ja beinahe köstlich fehlinformiert waren. Er hielt diese Vorträge jeden Abend, wenn nur sie beide am Tisch saßen. Ein paar Mal versuchte sie sich selbst darin und stellte fest, dass solche Reden ein erstaunlich tief gehendes und breit gefächertes Wissen erforderten, und zwar darüber, was richtig war, sowie eine beachtliche geistige Wendigkeit, um nahezu alles genau falsch herum darzustellen, mit einem gerade ausreichenden Anteil zutreffenden Inhalts, um den Zuhörer in den Wahnsinn zu treiben.
Bei ihrem dritten Versuch wählte sie als Thema die Kunst der Marmeladenzubereitung, über die sie am Nachmittag ausgiebig gelesen hatte. Es war die Jahreszeit, in der die Gartenernte haltbar gemacht und eingekocht werden musste. Pierce House besaß schließlich einen von einer Mauer umgebenen Garten, in dem rundum Obst an Spalieren wuchs. Es musste ihr recht gut gelungen sein, seine kunstvoll unergiebigen Monologe nachzuahmen, weil sie ihn am Ende ihres Vortrags dabei ertappt hatte, wie er den Kopf abwandte, um ein Lächeln zu verbergen.
Ihr Herz hatte wild geklopft.
Aber von diesem einen Mal abgesehen wich er nie von seiner Rolle ab. Und mit Ausnahme des Abendessens bekam sie ihn nur selten zu Gesicht. Wann immer sie jemanden aus der Dienerschaft nach dem Aufenthaltsort Seiner Lordschaft befragte, lautete die Antwort unweigerlich: „Seine Lordschaft unternimmt einen Spaziergang.“
Das schien die Norm zu sein. Laut Mrs Dilwyn war es nichts Ungewöhnliches für Seine Lordschaft, auf dem Land fünfzehn oder gar zwanzig Meilen am Tag spazieren zu gehen.
Zwanzig Meilen Alleinsein.
Aus irgendeinem Grund konnte Elissande nur an die Einsamkeit in seinem Blick denken, die sie bemerkt hatte, als sie zusammen im Bett gelegen hatten.
Sie hatte nicht damit gerechnet, ihm bei ihrem Spaziergang zu begegnen.
Ihre Spaziergänge waren viel kürzer als seine. Oft ging sie zwei Meilen in nordwestlicher Richtung, bis sie den oberen Rand von Dart Valley erreichte, wo sie in der Regel eine längere Rast einlegen musste, ehe sie sich auf den Rückweg machte.
Früher hatte sie sich nichts bei einem Fußmarsch von sieben Meilen gedacht. Aber in den Jahren ihres Beinahe-Hausarrests hatte ihre Ausdauer gelitten. Es wären Monate regelmäßiger Bewegung an frischer Luft nötig, bis sie wieder stark genug war, mit ihm durch die wellenförmige Hügellandschaft zu wandern, die Pierce House umgaben.
Das war es nämlich, was sie sich wünschte: mit ihm zu gehen. Sie mussten nicht viel reden, aber sie würde seine Nähe genießen. Und vielleicht würde auch er mit der Zeit etwas an ihrer Gesellschaft finden, das er mochte.
Sie kam oberhalb des Tales an, atmete schwer von dem steilen Anstieg. Und dann plötzlich klopfte ihr Herz schneller, ohne dass es etwas mit der körperlichen Anstrengung zu tun hatte. Auf halbem Weg des grasbewachsenen Abhangs, der sich bis zum Fluss erstreckte, konnte sie ihn sehen. Er stand da, eine Hand in der Tasche, in der anderen hielt er seinen Hut; seine Größe und die breiten Schultern waren unverwechselbar.
Als näherte sie sich einem wilden Araberpferd, das jeden Moment erschreckt fliehen könnte, ging sie langsam und vorsichtig zu ihm. Mittendrin drehte er sich um und entdeckte sie viel zu früh. Noch war sie gute sechzig Fuß
Weitere Kostenlose Bücher