Eine skandalöse Versuchung
Augen. »Aber die Mauern sind mit uraltem Efeu überwuchert, sodass ein gesunder Mann problemlos drüberklettern könnte.«
»Was auch den dumpfen Aufprall erklären würde, den Sie gehört haben.«
»Ganz genau.«
Er lehnte sich zurück. Einen Ellenbogen auf die Armlehne seines Sessels gestützt, das Kinn in die Hand gelegt, während sein Finger
nachdenklich gegen die Unterlippe trommelte, ließ er seinen Blick in die Ferne gleiten. Hinter den schweren Augenlidern halb versteckt, funkelten seine Augen hart und scharf wie zwei Diamanten. Er hatte ihre Anwesenheit nicht vergessen, ignorierte sie auch nicht absichtlich, er war lediglich tief in Gedanken versunken.
Noch nie hatte sie Gelegenheit gehabt, ihn so eingehend zu betrachten: die Kraft seines stattlichen Körpers; seine breiten Schultern, die durch den tadellos geschneiderten Anzug - natürlich von Shultz - ein wenig kaschiert wurden; seine langen, schlanken und muskulösen Beine, die unter der eng anliegenden Wildlederhose gut zu erkennen waren und in hohen, glänzenden Kalbslederstiefeln verschwanden. Er hatte auffallend große Füße.
Er war stets überaus elegant gekleidet, doch es war eine schlichte Art von Eleganz; er hatte es weder nötig, noch hielt er es offenbar für wünschenswert, das Aufsehen der Leute auf sich zu ziehen - er schien dem vielmehr gezielt aus dem Wege zu gehen. Selbst seine Hände - die vermutlich sein attraktivstes Merkmal darstellten - zierte nichts als ein einfacher goldener Siegelring.
Er hatte seinen Stil bereits erwähnt; Leonora konnte ihn inzwischen mit ziemlicher Überzeugung als »ruhige, elegante Stärke« beschreiben. Dieser Stil umgab ihn wie eine Aura, die von seinem Innern ausging - nicht von seiner Kleidung oder seinem Auftreten, sondern vielmehr von seiner Persönlichkeit -, wie eine tief innewohnende, angeborene Eigenschaft, die aus ihm hervorstrahlte.
Sie empfand seine subtile Stärke überraschenderweise als überaus attraktiv. Und beruhigend.
Auf ihren Lippen lag ein Lächeln, als er sie endlich wieder ansah. Er zog eine Braue hoch, doch sie schüttelte nur den Kopf und sagte nichts. Ihre Blicke blieben aneinander hängen; bequem in die Bibliothekssessel versunken, betrachteten sie einander.
Und mit einem Mal passierte etwas.
Ein heimtückischer, erregender Nervenkitzel durchfuhr ihren Körper, ein feiner Impuls, die Verlockung verbotener Freuden. Hitze wallte auf; ihr Atem wurde ungleichmäßig.
Ihre Blicke waren wie aneinandergefesselt. Keiner rührte sich. Sie war es, die den Zauber schließlich brach. Sie blickte ins Kaminfeuer. Und atmete tief ein. Sie ermahnte sich, realistisch zu sein; sie waren hier in seinem Haus, in seiner Bibliothek - er würde sie wohl kaum unter seinem eigenen Dach verführen, während seine Bediensteten und seine Cousinen praktisch danebenstanden.
Er setzte sich auf. »Wie sind Sie hierhergekommen?«
»Ich bin durch den Park gegangen.« Sie sah ihn an. »Das schien mir der sicherste Weg.«
Er nickte, stand auf. »Ich werde Sie nach Hause fahren. Dann kann ich gleich in der Nummer zwölf vorbeisehen.«
Sie beobachtete, wie er die Klingelschnur betätigte und dem ehrwürdigen Butler, der sogleich erschien, Anweisungen erteilte. Als er sich wieder zu ihr umwandte, fragte sie: »Haben Sie irgendetwas herausfinden können?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe verschiedene Möglichkeiten geprüft. Ich wollte herausfinden, ob in letzter Zeit irgendjemand besonderes Interesse am Montrose Place gezeigt hat.«
»Und ist etwas dabei herausgekommen?«
»Nein.« Er sah ihr in die Augen. »Ich habe auch nicht wirklich damit gerechnet - das wäre zu einfach gewesen.«
Sie verzog das Gesicht. Als Havers zurückkehrte, um ihnen zu sagen, dass die Kutsche nun bereitstünde, erhob sie sich.
Leonora warf sich ihre Pelisse über. Während er selbst seinen Mantel anzog und einen Diener nach seinen Kutschhandschuhen schickte, zerbrach Tristan sich den Kopf darüber, welche Möglichkeit er bislang übersehen, welchen Ansatz er noch unversucht gelassen haben könnte. Er hatte eine Vielzahl ehemaliger Dienstkollegen und einige in unterschiedlichen Funktionen tätige Militärangehörige befragt, in der Hoffnung, irgendwelche Informationen aufzutreiben; er war inzwischen überzeugt davon, dass sie es am Montrose Place mit einem ganz besonderen Fall zu tun hatten. Nirgendwo sonst in der Stadt schienen sich Banden oder auch Einzeltäter in vergleichbarer Weise zu verhalten.
Was wiederum
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