Eine skandalöse Versuchung
mehr spazieren.
Sie machte es sich zur Gewohnheit, wann immer sie das Haus verließ, Henrietta mitzunehmen oder - sofern dies nicht möglich war - einen Diener.
Mit der Zeit hätten sich ihre Nerven sicherlich beruhigt, sich entspannt.
Doch eines Spätnachmittags im Februar, als sie im Garten spazieren ging und es bereits dämmrig wurde, bemerkte sie im unteren Teil des Gartens, jenseits der Hecke, die das längliche Grundstück in zwei Bereiche teilte, einen Mann. Umrahmt von dem mittig gelegenen Heckenbogen stand zwischen den Gemüsebeeten eine schlanke, in einen Mantel gehüllte, dunkle Gestalt … und beobachtete sie.
Leonora war wie erstarrt. Es war nicht derselbe Mann, der sich ihr im Januar zweimal genähert hatte - das erste Mal beim Eingangstor,
das zweite Mal auf der Straße. Jener Mann war kleiner, schmächtiger gewesen; sie hatte sich gegen ihn wehren und sich losreißen können.
Der Mann, der sie nun beobachtete, kam ihr weitaus bedrohlicher vor. Er stand völlig still und reglos da, doch es war die Ruhe eines lauernden Raubtiers. Nicht mehr als ein Stück Rasen trennte sie beide voneinander. Leonora musste sich zwingen, sich nicht an die Kehle zu fassen, musste den Instinkt unterdrücken, sich umzudrehen und zu fliehen, die Überzeugung verleugnen, dass, wenn sie dies täte, er sich unvermittelt auf sie stürzen würde.
Henrietta kam herangetrottet; sie entdeckte den Mann, gab ein finsteres Knurren von sich. Ihr drohendes Grollen dauerte an und nahm beständig zu. Mit gesträubtem Nackenfell trat der große Jagdhund schützend zwischen seine Herrin und den Mann.
Dieser blieb einen Augenblick lang regungslos stehen, dann drehte er sich abrupt um. Mit wehendem Mantel entfloh er Leonoras Gesichtsfeld.
Unangenehm pochenden Herzens sah Leonora ihre Hündin an. Henrietta blieb wachsam, ihre Sinne geschärft. Dann hörte Leonora einen dumpfen Aufprall, die Hündin bellte kurz auf und trat dann den Rückweg zur Terrassentür an.
Leonora lief ein eiskalter Schauer über den Rücken; während sie mit weit aufgerissenen Augen die Dunkelheit absuchte, hastete sie zurück zum Haus.
Am nächsten Morgen um elf Uhr - dem frühestmöglichen Zeitpunkt für einen Höflichkeitsbesuch - klingelte Leonora an der Haustür eines eleganten Hauses in der Green Street, von dem ihr der Straßenfeger versichert hatte, dass es dem Earl of Trentham gehöre.
Ein imponierender und doch freundlich wirkender Butler öffnete ihr die Tür. »Ja bitte, Madam?«
Sie richtete sich kerzengerade auf. »Guten Morgen. Ich bin Miss Carling vom Montrose Place. Ich würde gerne mit Lord Trentham sprechen, wenn es möglich wäre.«
Der Butler schien aufrichtig bestürzt. »Bedauere, Seine Lordschaft ist nicht zugegen.«
»Oh.« Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie war davon ausgegangen, dass Trentham, wie die meisten Männer von Stand, vor Mittag keinen Fuß aus dem Haus setzte. Ein Moment verstrich, ohne dass ihr eine sinnvolle Alternative einfiel, dann blickte sie den Butler an. »Wird er in nächster Zeit zurückerwartet?«
»Ich nehme an, dass er innerhalb der nächsten Stunde wieder hier sein wird.« Scheinbar stand ihr die Entschlossenheit ins Gesicht geschrieben; der Butler zog die Tür weit auf. »Wenn Sie auf ihn warten möchten?«
»Herzlichen Dank.« Sie ließ ihre Anerkennung in den Worten mitschwingen. Der Butler wirkte überaus mitfühlend. Sie trat über die Schwelle in die große Eingangshalle und war auf der Stelle beeindruckt von ihrer hellen und luftigen Atmosphäre, die von der eleganten Einrichtung wirkungsvoll unterstrichen wurde. Als der Butler die Tür wieder geschlossen hatte, wandte sie sich ihm zu.
Er lächelte aufmunternd. »Wenn Sie mir bitte folgen möchten, Miss?«
Unsinnigerweise beruhigt, neigte Leonora den Kopf und folgte ihm den Gang hinunter.
Tristan kehrte kurz nach Mittag in die Green Street zurück - kein bisschen schlauer, jedoch umso besorgter. Er stieg die Eingangsstufen hinauf und zog seinen Schlüssel aus der Tasche, um sich selbst einzulassen; er hatte sich noch nicht daran gewöhnen können zu warten, bis Havers ihm die Tür öffnete und ihm Stock und Mantel abnahm - Handgriffe, die er ganz gut allein bewältigen konnte.
Er stellte seinen Stock in den Garderobenständer, warf den Mantel über einen Stuhl und machte sich leisen Schrittes auf den Weg zu seinem Arbeitszimmer in der Hoffnung, sich unbeachtet an den Bögen des Frühstückszimmers vorbeischleichen zu können und
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