Eine Socke voller Liebe
Corinna.
„Ja, für uns gleiten sie einfach so dahin, und es sieht aus,
als müssten sie sich überhaupt nicht anstrengen, weil wir nur einen Teil von
ihnen sehen“, überlegte Sabine, „es ist fast so wie im richtigen Leben. Niemand
sieht, wie man sich abstrampelt, solange man hinter einer Mauer bleibt.“
„Das hört sich an, als würdest du aus Erfahrung sprechen.
Redest du jetzt von dir?“, fragte Corinna.
„Kann schon sein“, antwortete Sabine, „es ist schon ein wenig
seltsam, aber ich habe bei diesem Vergleich wirklich gerade an mich und meine
Familie gedacht.“
„Warum?“, fragte Corinna.
Sabine musste nicht lange überlegen, bevor es aus ihr
heraussprudelte: „Weil ich dazu neige, niemandem zu zeigen, wie ich mich
abstrampele. Ich habe in den vergangenen fünf Jahren einfach nur funktioniert,
ohne an mich selbst zu denken.“
„Du kannst mir ruhig davon erzählen, wenn du möchtest“,
forderte Corinna sie auf.
Sabine hatte aus ihr selbst unerklärlichen Gründen das
Bedürfnis, der jungen Frau von ihrem Problemen zu erzählen und erwiderte: „Ja,
das möchte ich wirklich. Weißt du, wir waren viele Jahre lang das, was man sich
landläufig unter einer glücklichen Familie vorstellt. Markus und ich hatten
Berufe, die uns Spaß machten, wir liebten uns und unsere Ehe funktionierte. Wir
hatten keine finanziellen Sorgen, ein schönes Haus mit Garten und zwei gesunde,
wohlgeratene Kinder“, sie seufzte einmal tief auf, bevor sie fragte, „tja,
magst du wirklich meine Geschichte hören?“
„Erzähl ruhig, ich höre dir gerne zu“, ermunterte Corinna
sie.
„Ja, also es ging uns wirklich gut. Ein Grund, um dankbar und
zufrieden zu sein. Das waren wir auch solange, bis mein Mann alkoholabhängig
wurde. Du musst wissen, dass wir damals eine Wochenendehe geführt haben, und
ich habe die ersten Anzeichen seiner Sucht einfach nicht wahrgenommen.
Vielleicht habe ich auch manches ignoriert oder verdrängt.“
„Und jetzt machst du dir Vorwürfe deswegen?“
Sabine überlegte einen Moment, bevor sie antwortete: „Ich
kann mein damaliges Verhalten nicht mehr rückgängig machen, und ich weiß auch
nicht, was wäre, wenn ich mich anders verhalten hätte. Es ist müßig, darüber
nachzudenken.“
„Eine wichtige Erkenntnis. Aber rede weiter. Was ist
passiert?“ Sabine fasste nüchtern die Geschehnisse zusammen, ohne dass Corinna
sie unterbrach. Sie konnte die Dinge plötzlich aus einer anderen Distanz
betrachten und ihre Emotionen ausklammern. Es tat ihr einfach nur gut, so frei
darüber sprechen zu können. Als sie in ihrer Erzählung beim Verkauf des Hauses
angekommen war, machte sie eine Pause und sah die neue Freundin fragend an.
Corinna hatte aufmerksam zugehört, ohne das Erzählte zu
bewerten. „Und die Kinder?“, fragte sie jetzt, „wie haben die darauf reagiert?“
Sabine wurde nachdenklich, als sie anfing, von ihren Kindern
zu erzählen: „Sie haben ja nicht mehr Zuhause gewohnt, aber sie haben damals
ihr Elternhaus verloren.“ Dann glitt ein liebevolles Lächeln über ihr Gesicht,
und sie schweifte ab: „Weißt du, unsere Kinder sind sehr unterschiedlich von
ihrem Charakter und Aussehen her. Felix, der Ältere, ist so groß wie sein
Vater, hat aber meine rötlichen Haare geerbt und manche sagen, er sähe aus wie
Robert Redford in seinen jungen Jahren. Er ist ein sehr charmanter junger Mann,
aber er kann sehr aufbrausend sein. Er war, oder besser, er ist sehr enttäuscht
von seinem Vater und wird leicht wütend, wenn das Alkoholproblem zur Sprache
kommt. Er kann nicht verstehen, dass ich Markus immer noch nicht verlassen
habe. Als Felix ein Junge war, hat er seinen Vater sehr bewundert. Papa war
sein Vorbild und sein starker Held, und es hat ihn tief getroffen, dass Markus
ihm das schöne Bild seiner Kindheit zerrissen hat. Manchmal glaube ich, dass er
ihn jetzt nur noch hasst.“ Sabine machte eine nachdenkliche Pause.
Die beiden Frauen wanderten durch ein kleines Dorf. Auf der
Eingangstreppe eines Hauses und den davor stehenden Stühlen verteilt saßen
mehrere Generationen im Kreis um einen großen Bottich. Jeder von ihnen hatte
eine Schüssel mit Bohnen auf dem Schoß und puhlte das Gemüse aus der Schale, um
es dann in den Sammelbehälter zu schütten. Bei dieser gemeinsamen Arbeit wurde
laut geschwätzt und gelacht.
„Buen camino“, tönte es aus allen spanischen Kehlen im Chor,
als die beiden Frauen vorbeiliefen.
Corinna bemerkte: „Dieser spanische Pilgergruß
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