Eine Spur von Verrat
leide unter Schuldgefühlen, weil ich in meinem warmen Bett liege, genau wie die nächste Nacht und die übernächste… während der arme Teufel, der mir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist, bald in der kalten Erde eines ungeweihten Grabes schmoren wird.«
»Oliver!« Hester fuhr zu ihm herum, versuchte das Dunkel mit ihren Blicken zu durchdringen und griff ohne nachzudenken nach seinen Händen.
Seine Finger umschlossen sanft die ihren.
»Sterben Ihre Patienten nicht auch gelegentlich, Hester?«
»Doch, selbstverständlich.«
»Und fragen Sie sich dann nicht, ob es Ihre Schuld ist? Auch wenn Sie nicht das geringste für sie hätten tun können, nicht einmal ihre Schmerzen und ihre Furcht lindern?«
»Ja. Aber man darf diesem Gefühl nicht nachgeben, sonst ist man wie gelähmt und für den nächsten Patienten völlig unbrauchbar.«
»Genau.« Er hob ihre Hände und berührte sie leicht mit den Lippen, erst die linke, dann die rechte.
»Und das werden wir auch weiterhin nicht tun. Wir werden unser Bestes geben, aber auch den Mondschein auf den Apfelbäumen genießen und uns darüber freuen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, weil die andern ihn nicht haargenau so sehen können wie wir. Versprochen?«
»Versprochen«, sagte sie leise. »Und die Sterne und das Geißblatt auch.«
»Ach, vergessen Sie die Sterne.« Das Lachen war wieder da.
»Die sind überall gleich. Aber das Geißblatt am Rande des Obstgartens und die Lupinen an der Mauer sind wunderbar typisch für einen englischen Garten. Das ist unsere Welt.«
Sie kehrten zum Haus zurück, wo Henry an der Glastür zum Wohnzimmer stand. Der klare Gesang einer Nachtigall wehte einmal durch die Nacht und verklang.
Nach einer weiteren halben Stunde machte Hester sich auf den Heimweg. Es war bemerkenswert spät, und sie hatte diesen Abend genossen wie keinen anderen seit langer, langer Zeit.
Man schrieb mittlerweile den achtundzwanzigsten Mai. Mehr als ein Monat war bereits verstrichen, seit Thaddeus Carlyon ermordet worden war und Edith Hester gebeten hatte, ihr bei der Suche nach einer Stellung behilflich zu sein; einer Stellung, bei der sie ihre Talente nutzen und ihre Zeit lohnender verbringen konnte als mit nicht enden wollenden häuslichen Schöngeistigkeiten. Und bis jetzt hatte Hester in dieser Richtung nicht das geringste erreicht.
Von Edith Sobell einmal ganz abgesehen, machte Major Tipladys Gesundung außerordentliche Fortschritte, so daß er binnen kurzem ohne ihre Dienste auskommen würde. Sie mußte sich bald selbst nach einer neuen Stellung umsehen. Während es für Edith lediglich darum ging, ihr Leben sinnvoller zu gestalten, mußte Hester sich ihren Unterhalt verdienen.
»Sie sehen so bekümmert aus, Miss Latterly«, sagte Major Tiplady besorgt. »Fehlt Ihnen etwas?«
»Ich – nein. Alles in Ordnung«, beruhigte sie ihn schnell. »Ihr Bein heilt wunderbar. Die Entzündung ist abgeklungen, und ich denke, in spätestens ein bis zwei Wochen können Sie es wieder belasten.«
»Und wann wird diese bedauernswerte Carlyon vor Gericht gestellt?«
»Das weiß ich nicht genau. Irgendwann Mitte Juni.«
»Dann bezweifle ich allerdings sehr, ob ich in zwei Wochen ohne Sie auskommen kann.« Bei diesen Worten färbten sich seine Wangen schwach rosig, doch sein kobaltblauer Blick hielt ihrem tapfer stand.
Hester mußte lächeln. »Es wäre schlimmer als unehrlich, wenn ich hierbleiben würde, obwohl sie wieder vollkommen auf dem Damm sind. Wie sollten Sie mich dann weiterempfehlen?«
»Ich werde Ihnen die berauschendsten Empfehlungsschreiben ausstellen«, versprach er hastig. »Wenn es soweit ist – aber jetzt noch nicht. Und wie steht es mit Ihrer Freundin, die eine Stellung sucht? Was haben Sie für sie aufgetrieben?«
»Bisher noch gar nichts. Deshalb habe ich ja so bekümmert ausgesehen.« Das war zumindest die halbe, wenn auch nicht die ganze Wahrheit.
»Nun, dann müssen Sie sich wohl etwas mehr bemühen«, sagte Tiplady allen Ernstes. »Was ist sie denn für ein Mensch?«
»Sie ist die Witwe eines Soldaten, wohlerzogen und intelligent.«
Hester betrachtete sein unschuldiges Gesicht. »Und ich glaube kaum, daß sie sich gern etwas befehlen läßt.«
»Das ist schlecht«, bestätigte er mit einem winzigkleinen Lächeln. »Dann wird es keine leichte Aufgabe für Sie werden.«
»Es muß etwas für sie geben.« Sie beschäftigte sich, indem sie drei Bücher aufräumte, ohne ihn zu fragen, ob er sie ausgelesen hatte.
»Und mit
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