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Eine Spur von Verrat

Eine Spur von Verrat

Titel: Eine Spur von Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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bemerkte Oliver ruhig. »Monk war in ihrem Haus und hat mit den Dienstboten gesprochen. Doch nichts, was er über sie und den General in Erfahrung gebracht hat, läßt Alexandra in einem besseren Licht erscheinen oder erklärt den Mord. Er war unnahbar und mag vielleicht ein Langweiler gewesen sein, aber er hatte keine Affären, gab ihr immer genug Geld, hatte einen ausgezeichneten, ja fast perfekten Ruf – und war seinen Töchtern ein guter, seinem Sohn ein hingebungsvoller Vater.«
    »Er hat Sabella verboten, ihr Leben Gott zu weihen«, warf Hester hitzig ein. »Und sie gezwungen, Fenton Pole zu heiraten.«
    Oliver lächelte. »Gar nicht so unvernünftig, finde ich. Die meisten Väter würden dasselbe tun. Außerdem scheint Pole wirklich ein ganz passabler Bursche zu sein.«
    »Trotzdem hat er ihr seinen Willen auf gezwungen«, beharrte sie.
    »Das gehört nun mal zu den Vorrechten eines Vaters, insbesondere wenn es um Töchter geht.«
    Hester schnappte nach Luft. Am liebsten hätte sie ihm widersprochen, ihm vielleicht sogar bodenlose Ungerechtigkeit vorgeworfen, aber sie wollte auf Henry Rathbone keinen schroffen, unfreundlichen Eindruck machen. Der Zeitpunkt war denkbar ungünstig, um ihre persönlichen Überzeugungen zu vertreten, mochten sie noch so gerechtfertigt sein. Olivers Vater gefiel ihr unerwartet gut; es würde ihr eine Menge ausmachen, wenn er eine schlechte Meinung von ihr hätte. Ihr eigener Vater war völlig anders gewesen, sehr konventionell und auf tiefsinnige Gespräche nicht besonders erpicht. Und doch weckte Henry Rathbones Gegenwart zugleich tröstliche und schmerzhafte Erinnerungen an das Gefühl von Zugehörigkeit und Geborgenheit innerhalb einer Familie. Ihr wurde schlagartig bewußt, wie einsam sie war. Sie hatte ganz vergessen, wie schön es gewesen war, als ihre Eltern noch lebten – trotz aller Einschränkungen und geforderten Disziplin, trotz ihrer gesetzten, altmodischen Ansichten. Vermutlich hatte sie es verdrängt, um besser mit ihrem Kummer fertigzuwerden.
    Und jetzt brachte Henry Rathbone unerklärlicherweise das Beste davon wieder an die Oberfläche.
    Er riß sie aus ihren Gedanken, holte sie wieder in die Gegenwart und zum Fall Carlyon zurück. »Das liegt aber schon eine Weile zurück. Die Tochter ist inzwischen verheiratet, sagen Sie?«
    »Ja. Sie haben ein Kind«, sagte sie hastig. »Also gärt es vielleicht noch, kann aber nach so langer Zeit kaum Anlaß zum Morden sein?«
    »Richtig.«
    »Stellen wir einmal eine Hypothese auf«, schlug Henry vor, die Leckereien auf seinem Teller nach wie vor mißachtend.
    »Das Verbrechen wurde im Affekt begangen. Alexandra sah ihre Chance gekommen und packte die Gelegenheit beim Schöpf – ziemlich ungeschickt, wie sich später erweisen sollte. Sie muß folglich an jenem Abend etwas erfahren haben, das sie hinreichend quälte, um völlig den Kopf zu verlieren und sich keinerlei Konsequenzen mehr bewußt zu sein. Oder sie hatte schon lange vor, ihn zu töten, bislang aber keine Gelegenheit erhalten.« Er schaute Hester eindringlich an. »Was könnte eine Frau Ihrer Meinung nach so sehr erschüttern, Miss Latterly? Anders formuliert, was könnte ihr derart am Herzen liegen, um dafür zur Mörderin zu werden?«
    Oliver hielt mitten im Essen inne, die Gabel noch in der Luft.
    »Von dieser Seite haben wir es noch gar nicht betrachtet«, sagte er und wandte sich zu ihr um. »Ja, Bester, was meinen Sie?«
    Sie dachte sorgfältig nach; die Antwort sollte so umsichtig und klug wie möglich ausfallen.
    »Nun, ich würde mich zu einer so impulsiven Tat, bei der ich noch dazu ein Ende am Galgen riskiere, vermutlich nur dann hinreißen lassen, wenn eine akute Bedrohung für die Menschen bestünde, die ich am meisten liebe – was in Alexandras Fall zweifellos ihre Kinder sind.« Sie gestattete sich ein ironisches Lächeln. »Bedauerlicherweise gehörte ihr Mann offensichtlich nicht dazu. Für mich wären das normalerweise meine Eltern und meine Brüder, aber bis auf Charles sind leider schon alle tot.« Hätte sie das nur nicht gesagt. Es war ihr spontan eingefallen, Mitleid heischen wollte sie ganz bestimmt nicht. Ehe ihr dies dennoch zuteil werden konnte, fuhr sie hastig fort: »Sagen wir einfach für die Familie – und wenn Kinder da sind, wahrscheinlich auch für das ganze Zuhause. Manche Familien leben seit Generationen, sogar seit Jahrhunderten im selben Haus. Es würde mich nicht überraschen, wenn jemand so sehr daran hängt, daß er

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