Eine Spur von Verrat
Sache oder einer Person, die ihr wichtiger ist als ihr Leben.«
»Sie schützt einen anderen Menschen«, sagte Edith langsam.
»Aber wen? Sabella können wir ausschließen. Mr. Monk hat eindeutig bewiesen, daß sie ihren Vater nicht getötet haben kann.«
»Sie kann ihren Vater nicht getötet haben«, pflichtete Hester ihr bei. »Aber wir haben nicht ausgeschlossen, daß sie in Gefahr schwebte und Alexandra Thaddeus ermordet hat, um sie davor zu bewahren.«
»Und wovor?«
»Keine Ahnung. Vielleicht hat sie etwas ausgesprochen Sonderbares getan, wenn die Geburt ihres Kindes sie tatsächlich so sehr aus dem Gleichgewicht gebracht hat, und Thaddeus wollte sie in eine Irrenanstalt stecken.«
»Nein, das konnte er nicht«, gab Edith zu bedenken. »Sie ist Fentons Frau. Es wäre seine Aufgabe gewesen.«
»Na, dann eben er – auf Thaddeus’ Geheiß.« Hester war nicht besonders glücklich damit, doch es war wenigstens ein Anfang.
»Oder es ist etwas ganz anderes, hängt aber trotzdem mit Sabella zusammen. Alexandra würde doch töten, um Sabella zu schützen, oder?«
»Ja, ich glaube schon. Schön – das ist ein Grund. Was noch?«
»Ihre Scham über das Motiv ist derart groß, daß sie es niemandem anvertrauen will«, sagte Hester. »Tut mir leid – ich bin mir darüber im klaren, wie abstoßend der Gedanke ist. Dennoch kommt er als Möglichkeit in Betracht.«
Edith nickte.
»Oder ihre Lage wird durch das Motiv nicht verbessert«, schaltete sich der Major ein, während er von einer zur anderen blickte. »Wenn es ihr sowieso nicht helfen kann, behält sie es lieber für sich.«
Die beiden sahen ihn an.
»Richtig«, meinte Edith bedächtig. »Auch das wäre ein Grund.« Dann, an Hester gewandt: »Bringt uns das irgendwie weiter?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte diese finster. »Wahrscheinlich bleibt uns im Augenblick nichts anderes übrig, als nach dem tieferen Sinn zu suchen. Wenn uns das Ganze nicht mehr so sinnlos erscheint, ist es wenigstens erträglicher.« Sie zuckte die Achseln. »Ich kriege das Bild von Valentine Furnival einfach nicht aus meinem Kopf; der arme Junge wirkte furchtbar verletzt. Als hätte ihn alles, was die Welt der Erwachsenen ihm weismachen wollte, nur durcheinandergebracht und ihm letztlich auch keinen Halt geboten.«
Edith seufzte. »Bei Cassian verhält es sich genauso. Dabei ist er erst acht, der arme Wurm, und hat, wie es scheint, gleich Vater und Mutter auf einmal verloren. Ich habe versucht, ihn zu trösten oder doch zumindest nichts zu sagen, was den Verlust seiner Eltern herunterspielen würde, denn das wäre absurd. Ich wollte einfach mit ihm Zusammensein und ihm das Gefühl geben, daß er nicht völlig allein ist.« Sie schüttelte den Kopf, und ein bekümmerter Ausdruck glitt über ihre Züge. »Aber es hat nicht im geringsten funktioniert. Ich glaube, er mag mich nicht besonders. Der einzige, den er zu mögen scheint, ist Peverell.«
»Er muß seinen Vater schrecklich vermissen«, sagte Hester unglücklich. »Und vielleicht ist ihm trotz aller Vorsichtsmaßnahmen zu Ohren gekommen, daß seine Mutter diejenige war, die ihn ermordet hat. Womöglich begegnet er jetzt allen Frauen mit einem gewissen Mißtrauen.«
Edith seufzte wieder, senkte den Kopf und bedeckte das Gesicht mit den Händen, als könne sie sich dadurch nicht nur von der Außenwelt abschotten, sondern auch vor dem, was ihr geistiges Auge sah.
»Kann schon sein«, bestätigte sie kaum hörbar. »Der arme kleine Kerl – ich fühle mich so hilflos. Ich finde, das ist das allerschlimmste; man kann einfach nichts tun.«
»Doch. Weiterhoffen.« Major Tiplady streckte die Hand aus, wie um ihren Arm zu berühren, merkte dann aber plötzlich, was er da im Begriff stand zu tun, und zog sie hastig zurück. »Bis uns etwas einfällt«, schloß er leise und ein wenig lahm.
Doch fast eine Woche später, am vierten Juni, war ihnen immer noch nichts eingefallen. Monk ließ sich nirgends blicken. Oliver Rathbone war in seiner Kanzlei in der Vere Street schweigend in seine Arbeit vertieft und Major Tiplady nahezu wiederhergestellt, auch wenn er es nur ausgesprochen widerwillig zugab.
Hester erhielt eine Nachricht aus Clarence Gardens, in der sie in Ediths ziemlich ausladender Handschrift gebeten wurde, am folgenden Tag zum Lunch zu kommen. Sie sollte als Ediths Vertraute erscheinen, nicht als offizieller Gast, und ihre Eltern davon überzeugen, daß es keineswegs unschicklich wäre, wenn ihre Tochter eventuell
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