Eine Spur von Verrat
Sie.«
»Nein, Miss Latterly, Ma’am. Es ist eine Dame für Sie da, eine gewisse Mrs. Sobell.«
»Oh! Ach so.« Sie warf Major Tiplady einen kurzen Blick zu. Er nickte eifrig, seine Augen funkelten vor Neugier. »Gut. Bitten Sie sie herein.«
Einen Moment später stand Edith auf der Schwelle. Sie trug ein dunkelviolettes Seidenkleid mit weitem Rock und bot einen frappierend hinreißenden Anblick. Es war gerade so viel Schwarz vorhanden, daß es für ein Lippenbekenntnis an die Trauer reichte, und die intensive Farbe erhöhte den Reiz ihrer ansonsten eher durchscheinenden Haut. Ihr Haar war zur Abwechslung einmal wundervoll frisiert; sie mußte mit der Kutsche gekommen sein, denn der Wind hatte nicht wie sonst einzelne Strähnen gelöst.
Hester machte sie mit dem Major bekannt, der vor Freude – und vermutlich auch aus Unmut, zur Begrüßung nicht aufstehen zu können – ganz rosig wurde.
»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Major Tiplady«, sagte Edith gesittet. »Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, mich zu empfangen.«
»Ganz meinerseits, Mrs. Sobell. Ich bin entzückt, daß Sie uns Ihre Aufwartung machen. Darf ich Ihnen mein aufrichtiges Beileid zum Tode Ihres Bruders aussprechen – sein Ruf ist bis zu mir vorgedrungen. Ein prachtvoller Mensch.«
»Oh, vielen Dank. Ja – es ist eine Tragödie, und das in jeder Hinsicht.«
»In der Tat. Ich hoffe, der Ausgang wird weniger schlimm, als wir befürchten.«
Ihr verwunderter Blick trieb ihm erneut das Blut in die Wangen. »O weh«, sagte er hastig, »ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Bitte, verzeihen Sie mir. Ich weiß nur davon, weil Miss Latterly sich große Sorgen um Sie gemacht hat. Glauben Sie mir, Mrs. Sobell, ich wollte keinesfalls – äh…« Er stockte, verlegen um das rechte Wort.
Edith schenkte ihm ein unverhofftes Lächeln. Es war so strahlend, so überwältigend natürlich, daß er unter dieser Herzensgüte noch roter wurde, als er ohnedies schon war, und derart ins Stammeln geriet, daß er gar keinen Ton mehr hervorbrachte. Dann, ganz allmählich, entspannte er sich und lächelte bänglich zurück.
»Ich weiß. Hester tut alles, um uns zu helfen«, erwiderte Edith, den Blick auf den Major, nicht etwa auf die Freundin gerichtet, die damit beschäftigt war, ihr Tuch und ihre Haube an das Mädchen weiterzureichen. »Und sie hat es tatsächlich geschafft, den besten Strafverteidiger für Alexandras Prozeß zu gewinnen, der seinerseits wiederum einen Detektiv engagiert hat. Ich fürchte allerdings, sie haben bisher nichts in Erfahrung gebracht, das etwas ändern könnte an dem, was in eine komplette Katastrophe auszuufern scheint.«
»Sie dürfen die Flinte nicht so schnell ins Korn werfen, meine liebe Mrs. Sobell«, meinte der Major in beschwörendem Ton.
»Geben Sie niemals auf, ehe Sie wirklich geschlagen sind und keine andere Wahl mehr haben. Erst gestern war Miss Latterly bei Mrs. Furnival, um sich über ihren Charakter ein Bild zu machen.«
»Wirklich?« Edith wandte sich mit wiederkehrender Zuversicht zu Hester um. »Was hältst du von ihr?«
Hester lächelte wehmütig. »Nichts Hilfreiches, fürchte ich. Möchtest du vielleicht eine Tasse Tee? Es macht bestimmt keine Mühe.«
Edith warf dem Major einen kurzen Blick zu. Eigentlich war es zum Tee viel zu früh, andererseits hätte sie gern einen Grund zum Bleiben gehabt.
»Eine phantastische Idee«, ließ Tiplady sich schleunigst vernehmen. »Warum bleiben Sie nicht gleich zum Lunch? Das wäre wunderbar…« Er brach abrupt ab, weil ihm dämmerte, daß er zu forsch vorgegangen war. »Nun ja, wahrscheinlich haben Sie noch andere Verpflichtungen – Besuche zu machen und dergleichen. Ich wollte keinesfalls…«
Edith drehte sich wieder zu ihm um. »Es wäre mir ein Vergnügen, aber ich möchte mich unter keinen Umständen aufdrängen.«
Der Major strahlte vor Erleichterung. »Das tun Sie doch nicht überhaupt nicht. Bitte, nehmen Sie Platz, Mrs. Sobell. Ich glaube, der Stuhl da drüben ist ziemlich bequem. Hester, bitte, sagen Sie Molly, daß wir zum Lunch zu dritt sind.«
»Vielen Dank.« Mit völlig untypischer Grazie ließ Edith sich auf den breiten Stuhl sinken und saß mit geradem Rücken dort, die Hände im Schoß gefaltet, beide Füße ordentlich auf dem Boden.
Hester machte sich gehorsam aus dem Staub.
Ediths Blick wanderte über das hochgelagerte Bein des Majors.
»Ich hoffe, Ihre Gesundung schreitet voran?«
»O ja. In Windeseile, vielen Dank.« Er zuckte
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