Eine Spur von Verrat
Verwunderung.
»Dann muß ich’s dir wohl zeigen, was?« meinte Hargrave grinsend. Er schaute Felicia an. »Existiert das Schulzimmer noch?«
»Es wurde lange Zeit nicht benutzt, aber wir haben vor, es für Cassian wieder herzurichten, sobald diese unruhige Zeit vorbei ist. Wir werden selbstverständlich einen geeigneten Hauslehrer für ihn einstellen. Ich denke, es ist an der Zeit für eine grundlegende Veränderung, finden Sie nicht?«
»Eine gute Idee«, pflichtete Hargrave ihr bei. »Damit ihn nichts an Dinge erinnert, die man besser vergißt.« Er richtete das Wort wieder an Cassian. »Wir beide gehen heute nachmittag ins alte Schulzimmer hinauf, suchen uns einen Globus, und dann zeigst du mir die Länder des Empires, die du kennst, und ich zeige dir den Rest. Was hältst du davon?«
»Ja, Sir – danke, Sir«, sagte Cassian schnell. Er spähte zu seiner Großmutter hin, sah die Billigung in ihren Augen und drehte sich so, daß er mit dem Rücken zu seinem Großvater stand. Dabei mied er tunlichst seinen Blick.
Hester mußte unwillkürlich lächeln; ihr wurde regelrecht warm ums Herz. Der Junge schien wenigstens einen Freund zu haben, der ihn wie ein menschliches Wesen behandelte und ihm die unkritische, selbstlose Kameradschaft bot, die er so dringend brauchte. Und nach seinen vorherigen Worten zu urteilen, bemühte sein Großvater sich ebenfalls, ihn durch Geschichten aus längst vergangenen Tagen auf andere Gedanken zu bringen. Solchen Großmut hätte sie Randolf nicht zugetraut und sah sich infolgedessen gezwungen, ihn doch mit etwas mehr Wohlwollen zu betrachten. Von Peverell hatte sie ohnehin nichts anderes erwartet, aber er war fast den ganzen Tag geschäftlich unterwegs, während Cassian sich seine endlos langen Stunden vertreiben mußte.
Sie wollten gerade ins Eßzimmer gehen, als Peverell hereinschneite, sich für seine Verspätung entschuldigte und seine Hoffnung kundtat, sie nicht aufgehalten zu haben. Er begrüßte Hester und Hargrave, dann blickte er sich suchend nach Damaris um.
»Wie immer zu spät«, bemerkte Felicia mit schmalen Lippen.
»Nun, diesmal werden wir ganz gewiß nicht auf sie warten. Sie wird sich uns anschließen müssen, wo immer wir sind, wenn sie endlich auftaucht. Sie ist selbst schuld, wenn sie die Mahlzeit verpaßt.« Damit drehte sie sich um und marschierte zum Eßzimmer voraus, ohne irgendwen eines Blickes zu würdigen.
Sie saßen bereits am Tisch, das Mädchen trug soeben die Suppe auf, als Damaris die Tür öffnete und auf der Schwelle stehenblieb. Sie trug ein eng geschnittenes Kleid in Schwarz und Taubengrau, dessen Reifrock so schmal war, daß er kaum vorhanden zu sein schien. Das Haar hatte sie aus dem länglichen, nachdenklichen Gesicht gekämmt, was ihre hübschen Züge und den vollen Mund betonte.
Für einen Augenblick herrschte Schweigen. Das Mädchen erstarrte, die Suppenkelle noch in der Luft.
»Entschuldigt, daß ich so spät dran bin.« Ein winziges Lächeln kräuselte Damaris’ Lippen. Ihr Blick wanderte erst zu Peverell, dann zu Edith und Hester und blieb schließlich an ihrer Mutter hängen. Sie lehnte am Tür stürz.
»Deine Entschuldigungen erschöpfen sich langsam!« versetzte Felicia bissig. »Das ist jetzt das fünfte Mal in zwei Wochen, daß du zu spät zu einer Mahlzeit kommst. Bitte, servieren Sie weiter, Marigold.«
Das Mädchen setzte seine Arbeit fort.
Damaris streckte den Rücken und wollte gerade zu ihrem Platz gehen, als sie Charles Hargrave erblickte, der halb von Randolf Carlyon verdeckt wurde. Ihr Körper erstarrte, das Blut wich aus ihrem Gesicht. Sie schwankte, als wäre ihr schwindlig, und hielt sich mit beiden Händen am Türsturz fest.
Peverell sprang abrupt auf, wobei sein Stuhl mit einem unangenehm schabenden Geräusch nach hinten glitt.
»Was hast du, Ris? Bist du krank? Komm, setz dich, Schatz.« Er schleifte sie mehr oder minder zu seinem Stuhl und ließ sie vorsichtig daraufsinken. »Was ist los? Hast du einen Schwächeanfall?«
Edith schob ihm ihr Wasserglas hin. Er griff danach und hielt es an Damaris’ Lippen.
Hargrave stand auf, trat zu ihr und ging neben ihr in die Knie. Dann betrachtete er sie mit der professionellen Gelassenheit eines Arztes.
»Muß das sein!« meinte Randolf gereizt und aß weiter.
»Haben Sie heute schon gefrühstückt?« fragte Hargrave und sah Damaris stirnrunzelnd an. »Oder sind Sie da auch zu spät gekommen? Fasten kann gefährlich sein – man schwebt plötzlich wie auf
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