Eine Spur von Verrat
Wolken.«
Sie hob den Kopf und begegnete zögernd seinem Blick. Für Sekunden starrten sie einander in seltsam versteinerter Reglosigkeit an; er besorgt, sie ziemlich verwirrt, als wüßte sie kaum, wo sie war.
»Ja«, sagte sie schließlich mit belegter Stimme. »Das wird es sein. Entschuldigt bitte, daß ich mich so schlecht benommen habe.« Sie schluckte mühsam. »Vielen Dank für das Wasser, Pev – Edith. Es kommt bestimmt nicht wieder vor.«
»Was für ein Theater!« brauste Felicia auf und funkelte ihre Tochter erbost an. »Du bist nicht nur zu spät, du kommst auch noch hier hereinstolziert wie eine Operndiva und fällst dann halb in Ohnmacht. Wirklich, Damaris, dein Sinn für Melodramatik ist sowohl lächerlich wie auch ungebührlich. Es wird höchste Zeit, daß du aufhörst, die Aufmerksamkeit mit allen erdenklichen Mitteln auf dich zu ziehen!«
Hester fühlte sich ausgesprochen unwohl; das war genau die Art Szene, der ein Fremdling besser nicht beiwohnte.
Peverell blickte auf, das Gesicht plötzlich voller Wut.
»Du bist ungerecht, Schwiegermama. Dieser Schwächeanfall war bestimmt nicht beabsichtigt. Außerdem finde ich, wenn du schon Kritik anbringen willst, solltest du das besser im privaten Rahmen tun, wenn weder Miss Latterly noch Dr. Hargrave Zeuge unserer peinlichen familiären Auseinandersetzungen werden können.«
Obschon diese kleine Rede in durchaus höflichem Ton gehalten worden war, enthielt sie den schärfsten Tadel, den man sich denken konnte. Er warf ihr würdeloses, gegenüber der Familienehre unloyales Verhalten vor und, was vermutlich am schlimmsten war, ihre Gäste in eine peinliche Situation manövriert zu haben. Samt und sonders Sünden, die vom gesellschaftlichen und auch moralischen Standpunkt aus betrachtet unverzeihlich waren.
Felicia lief dunkelrot an, dann wich das Blut aus ihrem Gesicht und ließ sie aschfahl zurück. Sie öffnete den Mund, wie um zu einem ähnlich gemeinen Gegenschlag auszuholen, doch es wollte ihr keiner einfallen.
Peverell konzentrierte sich wieder auf seine Frau. »Du solltest dich besser hinlegen, Schatz. Ich werde dir Gertrude mit einem Tablett hinaufschicken.«
»Ich…« Damaris saß kerzengerade, von Hargrave abgewandt, auf dem Stuhl. »Ehrlich, ich…«
»Du wirst dich dann viel wohler fühlen«, beteuerte Peverell, doch sein Ton war so stählern, daß er keine Widerrede zuließ.
»Ich bring dich zur Treppe. Komm!«
Gehorsam verließ sie leicht auf seinen Arm gestützt den Raum, nicht ohne ein leises gemurmeltes »Entschuldigung« über die Schulter zu werfen.
Edith begann wieder zu essen. Nach und nach normalisierte sich die Stimmung. Wenige Augenblicke später kam Peverell zurück, gab zum Thema Damaris jedoch keinerlei Kommentar mehr ab, und die Episode wurde nicht weiter erwähnt.
Sie wollten gerade mit dem Dessert anfangen – gebackene Äpfel in Karamelsauce –, als Edith für die zweite turbulente Unterbrechung sorgte.
»Ich werde mir eine Stellung als Bibliothekarin suchen, vielleicht auch als Gesellschafterin«, verkündete sie, den Blick tapfer auf die Tafelmitte geheftet. Dort stand ein kompliziertes Blumenarrangement aus Schwertlilien, voll aufgeblühten Lupinen aus einem geschützten Teil den Gartens sowie knospendem weißen Flieder.
Der Apfel blieb Felicia im Halse stecken.
»Was wirst du?« fragte Randolf in unheilverkündendem Ton.
Hargrave stierte sie mit gekrauster Stirn und ungläubigen Augen an.
»Ich werde mir eine Stellung als Bibliothekarin suchen«, wiederholte Edith. »Oder als Gesellschafterin – oder sogar als Französischlehrerin, wenn alle Stricke reißen.«
»Du hattest schon immer einen unberechenbaren Sinn für Humor«, versetzte Felicia eisig. »Nein, nicht genug, daß Damaris einen Narren aus sich macht, du mußt es ihr mit solchen aberwitzigen Bemerkungen auch noch gleichtun. Was ist bloß in euch gefahren? Der Tod eures Bruders scheint euch um den Verstand gebracht zu haben – von eurem Gefühl für Anstand ganz zu schweigen. Ich verbiete dir, so etwas auch nur noch einmal zu erwähnen. In diesem Haus wird getrauert! Das wirst du dir zu Herzen nehmen und dich dementsprechend verhalten.« Ihr Gesicht war wie eine Einöde. Eine Woge von Trübsal schlug darüber zusammen und ließ eine Frau zurück, die plötzlich wesentlich älter und verletzlicher aussah; die ganze zur Schau gestellte Tapferkeit war nichts als eine Maske. »Dein Bruder war ein prachtvoller Mann, ein begnadeter Mann, dem die
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