Eine Spur von Verrat
beschaffen, aber bis es soweit war, würde er ihrer Tochter Sabella nochmals einen Besuch abstatten. Die Antwort auf die Frage, warum Alexandra ihren Mann ermordet hatte, mußte irgendwo in ihrem Wesen oder ihren Lebensumständen begründet liegen. Die einzige Chance, die er sah, bestand darin, mehr über sie zu erfahren.
So fand er sich also um elf Uhr vormittags vor Fenton Poles Haus in der Albany Street ein, klopfte an die Tür und übergab dem Mädchen seine Karte mit der Bitte, Mrs. Pole sprechen zu dürfen.
Die Uhrzeit hatte er sorgfältig ausgewählt. Fenton Pole war geschäftlich unterwegs und Sabella, wie erwartet, ausgesprochen erpicht darauf, ihn zu sehen. Kaum hatte er das Empfangszimmer betreten, löste sie sich von dem grünen Sofa und kam ihm entgegen. Ihre Augen waren hoffnungsvoll geweitet, ihr Haar umrahmte in weichen, hellen Locken ihr Gesicht. Ihr Rock war auffallend weit; als sie aufstand, glitten die Reifen auseinander und verursachten dadurch ein leises Rascheln von Taft, das wie ein sachtes Raunen klang.
Aus heiterem Himmel wurde Monk von einer Erinnerung heimgesucht. Sie versetzte ihm einen Stich, löschte die gegenwärtige, in den üblichen Grüntönen gehaltene Umgebung aus und beförderte ihn jäh in einen Raum, der von Gaslampen erhellt war; Spiegel reflektierten den Schein eines Kronleuchters, eine Frau sprach auf ihn ein. Doch ehe er sich auf etwas konzentrieren konnte, war die Vision wieder verschwunden. Was blieb, waren Konfusion, das Gefühl, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, und der verzweifelte Wunsch, den Eindruck zu rekonstruieren und in seiner Ganzheit zu verstehen.
»Mr. Monk«, sagte Sabella hastig. »Ich bin so froh, daß Sie noch einmal gekommen sind. Nachdem mein Mann Sie letztens derart unhöflich hinauskomplimentiert hat, hatte ich schon die Befürchtung, Sie würden sich hier nie wieder sehen lassen. Wie geht es Mama? Haben Sie mit ihr gesprochen? Können Sie ihr helfen? Man sagt mir ja nichts, dabei bin ich fast rasend vor Angst.«
Der Sonnenschein in dem hellen Zimmer wirkte irreal, als träfe er Monk über den Umweg von tausend Spiegeln. Sein Verstand jagte hinter Gaslicht her, düsteren Ecken und funkelnden Lichtblitzen auf Kristall.
Sabella stand vor ihm, das hübsche ovale Gesicht ausgezehrt, die Augen voll Furcht. Er mußte sich zusammenreißen und ihr die Aufmerksamkeit entgegenbringen, die sie verdiente. Jeglicher Anstand verlangte es von ihm. Was hatte sie gesagt? Mein Gott, konzentrier dich!
»Ich habe um die Erlaubnis ersucht, Ihre Mutter so bald wie möglich wiedersehen zu können, Mrs. Pole«, erwiderte er. Seine Stimme klang wie aus einer anderen Welt. »Ob ich helfen kann, weiß ich leider noch nicht. Bisher habe ich wenig Brauchbares erfahren.«
Sie schloß die Augen, als wäre ihr Schmerz körperlicher Natur, und wich vor ihm zurück.
»Ich muß mehr über sie wissen«, fuhr er fort. »Bitte, Mrs. Pole, helfen Sie mir, wenn Sie können. Sie weigert sich, uns mehr zu sagen, als daß sie ihn getötet hat. Sie verschweigt uns den wahren Grund. Ich habe nach Hinweisen auf irgendein anderes Motiv gesucht, aber keine entdeckt. Die Antwort muß in ihrem Wesen oder in dem Ihres Vaters begründet liegen. Oder in einem Vorfall, der uns bislang unbekannt ist. Bitte – erzählen Sie mir von den beiden!«
Sie schlug die Augen auf und starrte ihn an; allmählich kam wieder etwas Farbe in ihr Gesicht.
»Was möchten Sie wissen, Mr. Monk? Ich werde Ihnen sagen, was ich kann. Fragen Sie mich nur – weisen Sie mich an!« Sie setzte sich hin und bedeutete ihm mit einem Wink, es ebenfalls zu tun.
Er ließ sich gehorsam nieder und versank tief in dem weichen Polster, das sich als unerwartet bequem entpuppte.
»Es könnte schmerzhaft werden«, warnte er sie. »Wenn es Sie zu sehr belastet, sagen Sie es ruhig. Ich will auf keinen Fall, daß Sie krank werden.« Er behandelte sie behutsamer, als es seiner Gewohnheit entsprach und als er geplant hatte. Vielleicht, weil sie sich zu große Sorgen um ihre Mutter machte, um sich vor ihm zu fürchten. Furcht weckte seinen Jagdinstinkt, machte ihn wütend, da sie seiner Ansicht nach jeglicher Daseinsberechtigung entbehrte. Was er verehrte, war Mut.
»Mr. Monk, das Leben meiner Mutter ist in Gefahr«, gab Sabella mit direktem Blick zurück. »Etwas Kummer kann ich da durchaus verkraften.«
Er lächelte sie zum erstenmal an; es war eine kurze, großherzige Gebärde, die der Eingebung des Augenblicks
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