Eine Spur von Verrat
November 1854 erschien Monk auf der Bildfläche. Als erstes befragte er die Dorfpolizei, dann Margery, den ersten Arzt, den zweiten Arzt, die beiden Söhne und schließlich mehrere Nachbarn und Ladenbesitzer.
Evan war es nicht gelungen, den Inhalt dieser Vernehmungen aufzuschreiben. Folglich standen Monk lediglich ein paar Namen zur Verfügung, doch das müßte reichen, um die Sache wieder aufzurollen; die Dorfbewohner erinnerten sich zweifelsohne noch sehr ausführlich an die große Sensation eines erst drei Jahre alten Mordes.
Nach etwas mehr als zwei Stunden Fahrt traf er auf dem verschlafenen Bahnhof ein. Den guten Kilometer zum Dorf ging er zu Fuß. Es gab eine nach Westen führende Hauptstraße mit mehreren Läden sowie einem Wirtshaus und, soviel er sehen konnte, nur eine einzige Seitenstraße. Zum Mittagessen war es noch zu früh, aber für ein Glas Apfelwein im Wirtshaus war die Zeit wie geschaffen.
Man empfing ihn mit neugierigem Schweigen. Es dauerte geschlagene zehn Minuten, bis ihn der Wirt endlich ansprach.
»Tag, Mr. Monk. Was ham Sie denn hier verlorn? Hat seit’m letztenmal kein Mord nich mehr gegeben.«
»Das hör ich gern«, gab Monk im Plauderton zurück. »Einer reicht ja auch vollkommen.«
»Könn Se wohl laut sagen!« pflichtete der Wirt ihm bei. Wieder wurde es minutenlang still. Zwei schwitzende, sichtlich durstige Männer kamen herein, die bloßen Arme von Wind und Sonne gebräunt, die Augen nach dem hellen Tageslicht draußen wegen der plötzlichen Düsternis blinzelnd zusammengekniffen. Niemand verließ den Raum.
»Und wieso sin Se dann hier?« wollte der Wirt schließlich wissen.
»Muß ein paar Dinge regeln«, erwiderte Monk beiläufig.
Der Wirt beäugte ihn mißtrauisch. »Was’n zum Beispiel? Die arme Margery hat gebaumelt. Was wolln Se da noch regeln?« Damit war seine letzte Frage zuerst und schonungslos brutal beantwortet. Monk wurde von eisiger Kälte überfallen, als wäre ihm bereits alles entglitten. Und doch sagte ihm der Name nichts. An diese Straße konnte er sich zwar vage erinnern, aber was brachte ihm das? Daß er schon einmal hiergewesen war, stand zweifelsfrei fest, aber war Margery Worth die Frau, die ihm soviel bedeutet hatte? Wie sollte er das jetzt noch herausfinden? Nur ihr Gesicht, ihre Gestalt hätten es ihm verraten können, und beides war gemeinsam mit ihrem Leben durch ein Ende am Strick zerstört worden.
»Ein paar Fragen sind noch offen«, sagte er so unverbindlich wie möglich, obwohl seine Kehle wie zugeschnürt war und sein Herz wild gegen den Brustkorb schlug – und er sich dennoch im Grunde unbeteiligt fühlte. Konnte er sich deshalb nicht erinnern? Weil er grauenhaft, rettungslos gescheitert war? Hatte sein Stolz diesen Teil seines Gedächtnisses eingefroren – und mit ihm die Frau, die deshalb gestorben war?
»Ich will ein paar meiner damaligen Schritte zurückverfolgen, damit ich auch weiß, daß ich keinen Unsinn erzähle.« Seine Stimme klang rauh, die Begründung wenig überzeugend.
»Wieso – wer will’s ’n wissn?« hakte der Wirt denn auch argwöhnisch nach.
Monk schloß mit der Wahrheit einen Kompromiß. »Ihre Lordschaften in London. Mehr kann ich nicht sagen. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich muß mich auf den Weg machen und nachsehen, ob der Arzt noch hier wohnt.«
»Klar, der schon.« Der Wirt schüttelte den Kopf. »Aber der alte Doc Sillitoe aus Saxmundham lebt nich mehr. Is von seim Pferd gefalln und hat sich ’n Schädel gespalten.«
»Tut mir leid, das zu hören.« Monk trat auf die Straße hinaus und schlug sich nach links. Er verließ sich voll und ganz auf sein Gedächtnis und sein Glück bei der Suche nach dem richtigen Haus. Wo der Arzt wohnte, wußte schließlich jedes Kind.
Diesen und den darauffolgenden Tag verbrachte er in Yoxford. Er sprach mit dem Arzt und mit Jack Worths Söhnen, denen jetzt die Farm gehörte; mit dem Wachtmeister, der ihn furchtsam und verlegen begrüßte und auch jetzt noch krampfhaft bemüht war, den Herrn aus London zufriedenzustellen; mit dem Wirt der Pension, in der er die Nacht verbrachte. Er erfuhr einiges, was nicht in seinen Aufzeichnungen gestanden hatte, doch außer der vagen Vertrautheit eines Hauses oder dem Panorama einer Straße, einem gen Himmel ragenden Baumriesen und den welligen Konturen der Landschaft brachte nichts eine Saite in seinem Gedächtnis zum Klingen. Er wurde von keinerlei heftigen Erinnerungen überfallen, das einzige, was sich einstellte, war
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