Eine Spur von Verrat
London. Die bleierne Müdigkeit, unter der er litt, rührte nicht von körperlicher Anstrengung, sondern von tiefer Enttäuschung und einem erdrückenden Schuldgefühl her. Bis zum Prozeß waren es noch weniger als zwei Wochen, und er hatte über zwei Tage damit verplempert, einem persönlichen Hirngespinst nachzujagen. Ihm war nach wie vor schleierhaft, weshalb Alexandra Carlyon den General ermordet hatte, wie auch was er Oliver Rathbone Hilfreiches berichten könnte.
Am Nachmittag machte er von der Besuchserlaubnis Gebrauch, die Rathbone ihm verschafft hatte, und ging zum zweitenmal zu Alexandra ins Gefängnis. Selbst als er die gigantischen Tore schon hinter sich gelassen hatte und die grauen Wände sich vor ihm auftürmten, hatte er noch keine Ahnung, was er ihr erzählen sollte; im Grunde hatten Rathbone und er bereits alles gesagt. Trotzdem – er mußte es ein letztes Mal versuchen. Heute war der elfte Juni; am zweiundzwanzigsten begann der Prozeß.
Wiederholte sich hier die Geschichte? War das ein weiterer fruchtloser Versuch im Kampf gegen die Zeit, ein mühsames Zusammenkratzen von Beweisen, um eine Frau vor den Konsequenzen ihrer Tat zu bewahren?
Er fand sie in derselben Haltung vor wie beim erstenmal; sie saß mit hängenden Schultern auf der Pritsche und starrte mit nach innen gekehrtem Blick stumpf an die Wand. Er hätte zu gern gewußt, was sie sah.
»Mrs. Carlyon…«
Die Tür schlug mit einem dumpfen Knall hinter ihm zu, dann waren sie allein.
Alexandra hob den Kopf. Ein Hauch von Überraschung trat in ihre Züge, als sie ihn erkannte. Falls sie überhaupt jemanden erwartet hatte, dann Rathbone. Sie war noch dünner als beim letztenmal und trug die gleiche Bluse, doch durch ihre Haltung war der Stoff derart gespannt, daß ihre knochigen Schultern sich deutlich abmalten. Ihr Gesicht war sehr blaß. Sie sagte kein Wort.
»Mrs. Carlyon, wir haben nicht mehr viel Zeit. Für Höflichkeitsfloskeln und Ausflüchte ist es zu spät. Jetzt hilft uns nur noch die Wahrheit.«
»Es gibt nur eine Wahrheit, die zählt, Mr. Monk«, sagte sie kraftlos. »Und die ist, daß ich meinen Mann getötet habe. Alle anderen Wahrheiten kümmern sie nicht. Bitte versuchen Sie nicht, mir etwas anderes weiszumachen. Das wäre absurd – und vergebens.«
Er stand reglos in der Mitte des winzigen Steinbodenquadrats und starrte auf sie hinab.
»Vielleicht kümmert sie, warum Sie es getan haben!« erwiderte er schroff. »Können Sie nicht endlich aufhören zu lügen! Sie sind nicht verrückt. Sie müssen einen guten Grund gehabt haben. Entweder hatten Sie auf der Galerie eine Auseinandersetzung mit ihm, sprangen ihn an, stießen ihn rückwärts über das Geländer und waren noch immer derart von Ihrem Zorn besessen, daß Sie die Treppe hinunterrannten, um ihm dann, als er in die Einzelteile der Rüstung verstrickt bewußtlos auf dem Boden lag, mit der Hellebarde den Rest zu geben.« Er beobachtete ihr Gesicht und sah, wie sich ihre Augen weiteten und ihr Mund zu zucken begann. Doch sie wandte den Blick nicht ab. »Oder Sie hatten den Mord vorher geplant und führten ihn absichtlich zur Treppe, um ihn hinunterzustoßen. Vielleicht hofften Sie, er würde sich bei dem Sturz das Genick brechen, und gingen nach unten, um sich davon zu überzeugen. Als Sie dann sahen, daß er relativ unverletzt war, machten Sie von der Hellebarde Gebrauch, um zu vollenden, was der Sturz nicht erreicht hatte.«
»Sie irren sich«, sagte sie matt. »Erst als wir oben an der Treppe standen, kam mir der Gedanke, ihn auf diese Weise zu töten – ja, ich war auf der Suche nach einer Möglichkeit. Ich wollte es schon länger tun, aber an die Treppe hatte ich bis dahin nicht gedacht. Und als er plötzlich so vor mir stand, den Rücken zum Geländer, den Abgrund hinter sich, und ich wußte, daß er nie…« Sie verstummte, der Glanz in ihren blauen Augen erlosch. Sie wandte sich von ihm ab. »Ich habe ihm einen Stoß versetzt«, fuhr sie fort. »Und als er über die Brüstung fiel und auf die Rüstung prallte, dachte ich, er wäre tot. Ich ging sogar ziemlich langsam nach unten. Ich dachte, jetzt wäre alles vorbei. Ich rechnete eigentlich damit, daß jemand herbeieilen würde, weil die Rüstung beim Umfallen so einen Heidenlärm gemacht hat. Ich wollte sagen, er hätte das Gleichgewicht verloren.« Ihr Gesicht nahm flüchtig einen verwunderten Ausdruck an. »Doch niemand erschien. Nicht mal einer der Dienstboten, also konnte es wohl doch niemand
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