Eine Spur von Verrat
Augen füllten sich langsam mit Tränen.
»Ich verspreche es«, wiederholte Hester. »Ich fange jetzt gleich damit an. Vergiß nicht, wenn du jemanden brauchst, mit jemandem sprechen willst, dann geh zu Miss Buchan. Sie ist immer für dich da und versteht Geheimnisse – abgemacht?«
Er nickte noch einmal und wandte sich ab, als ihm die ersten dicken Tränen über die Wangen kullerten.
Sie wäre liebend gern zu ihm gegangen, um ihn in die Arme zu nehmen, ihn weinen zu lassen. Doch sie befürchtete, daß er dann vielleicht endgültig seine Fassung, seine Würde und seine Selbstsicherheit verlor, alles Dinge, die er dringend brauchte, um die nächsten Tage oder Wochen zu überstehen.
Schweren Herzens drehte sie sich um, ging zur Tür hinaus und zog sie leise hinter sich ins Schloß.
Hester entschuldigte sich so hastig wie möglich und ohne Angabe von Gründen bei Edith und machte sich mit forschem Schritt auf den Weg in die Fitzwilliam Street. Sie hielt den allerersten Hansom an, den sie entdecken konnte, bat den Kutscher, sie in die Vere Street, nahe Lincoln’s Inn Fields, zu fahren und lehnte sich dann endlich zurück, um sich wieder einigermaßen zu sammeln, ehe sie vor Rathbones Kanzlei eintraf.
Dort angelangt, stieg sie aus, bezahlte den Kutscher und ging auf direktem Weg hinein. Der Sekretär begrüßte sie höflich, wenn auch leicht erstaunt.
»Ich habe keinen Termin«, sagte sie hastig. »Aber ich muß Mr. Rathbone so bald wie möglich sprechen. Ich kenne jetzt das Motiv im Fall Carlyon, und wie Sie sicher wissen, haben wir keine Zeit zu verlieren.«
Er legte die Feder aus der Hand, schraubte das Tintenfaß zu und erhob sich.
»In der Tat, Ma’am. Wenn das so ist, werde ich Mr. Rathbone sofort in Kenntnis setzen. Er hat zwar gerade einen Klienten, aber er würde es Ihnen bestimmt sehr danken, wenn Sie warten könnten.«
»Gewiß.« Sie setzte sich und beobachtete unter Aufbietung ihrer gesamten Geduld, wie die Zeiger der Standuhr unendlich langsam über das Zifferblatt krochen, bis sich fünfundzwanzig Minuten später endlich die Tür auftat und ein großgewachsener Herr herauskam, dessen goldene Uhrkette über einem voluminösen Bauch baumelte. Er warf ihr einen indignierten Blick zu, wünschte dem Sekretär einen schönen Tag und entschwand.
Der Sekretär eilte sofort in Rathbones Büro und war einen Augenblick später wieder zurück.
»Wenn ich bitten darf, Miss Latterly?« Er trat einen Schritt beiseite und wies mit der Hand auf die offenstehende Tür.
»Danke.« Sie stürmte an ihm vorbei.
Oliver Rathbone saß hinter seinem Schreibtisch. Er sprang auf, noch bevor Hester über die Schwelle war.
»Hester?«
Sie zog die Tür hinter sich zu und lehnte sich dagegen, plötzlich völlig außer Atem.
»Ich weiß, warum Alexandra den General ermordet hat!« Das Schlucken fiel ihr unendlich schwer; ihr Hals brannte wie Feuer.
»Und bei Gott, ich glaube, ich hätte es auch getan. Und wäre eher an den Galgen gewandert, als den Grund preiszugeben.«
»Warum?« Seine Stimme klang rauh, war kaum mehr als ein Flüstern. »Um Himmels willen, warum?«
»Weil er seine fleischlichen Gelüste an seinem eigenen Sohn befriedigt hat!«
»Großer Gott! Sind Sie sicher?« Er ließ sich abrupt auf seinen Stuhl fallen, als hätte ihn jegliche Kraft verlassen. »General Carlyon – er hat…? Hester…?«
»Ja – und nicht nur er, sondern der alte Colonel wahrscheinlich auch – und weiß Gott, wer sonst noch.«
Rathbone schloß die Augen. Sein Gesicht war aschfahl.
»Kein Wunder, daß sie ihn ermordet hat«, meinte er kaum hörbar.
Hester trat zu ihm und nahm ihm gegenüber Platz. Es bedurfte keiner großen Erklärungen. Sie kannten beide die Hilflosigkeit einer Frau, die ihren Mann ohne dessen Einverständnis verlassen wollte. Und selbst wenn sie es bekam, gehörten die Kinder rechtlich gesehen ihm, nicht ihr. Laut Gesetz verwirkte sie durch diesen Schritt jegliches Anrecht auf sie, auch wenn es sich um Säuglinge handelte, geschweige denn um einen Achtjährigen.
»Was blieb ihr anderes übrig?« sagte Hester mit leerem Blick.
»Es gab niemanden, an den sie sich wenden konnte – ich nehme nicht an, daß irgend jemand ihr geglaubt hätte. Man hätte sie wegen Verleumdung oder geistiger Umnachtung eingesperrt, wenn sie etwas derart Ungeheuerliches von einem solchen Stützpfeiler des Militärs wie dem General behauptet hätte.«
»Seine Eltern vielleicht?« schlug er vor, mußte dann aber selbst bitter
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