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Eine Spur von Verrat

Eine Spur von Verrat

Titel: Eine Spur von Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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ihr verzeihen.«
    »Und doch empfinden Sie in Ihrem Innersten Mitleid für sie?« hakte Hester sanft und voll Hochachtung nach.
    »Natürlich«, gab Miss Buchan mit einem wehmütigen kleinen Lächeln zurück. »Man kennt nur das, was einem beigebracht wird, was einem jeder sagt. Man ist ganz allein. Wen könnte man schon fragen? Man handelt, wie man denkt – man mißt dem am meisten Gewicht bei, das man am meisten schätzt. Ein einheitliches Gesicht für die Außenwelt. Man hat zuviel zu verlieren, verstehen Sie? Ihr fehlte die Courage.«
    Hester verstand nicht. Sie versuchte den Knoten zu entwirren, doch kaum bekam sie einen Faden zu fassen, begann sich woanders wieder etwas zu verheddern. Aber wie weit durfte sie mit ihren Fragen gehen, ohne Gefahr zu laufen, daß Miss Buchan ihr eine Abfuhr erteilte und sich vollends in Schweigen hüllte? Ein zudringlich erscheinendes Wort, eine unangebrachte Geste, ein Hauch von Neugier – und sie verschloß sich womöglich für immer.
    »Es scheint wirklich alles für sie auf dem Spiel gestanden zu haben«, tastete sie sich behutsam vor.
    »Jetzt nicht mehr«, entgegnete Miss Buchan mit plötzlicher Bitterkeit. »Jetzt ist alles zu spät. Es ist vorbei – der Schaden ist bereits angerichtet.«
    »Sie glauben nicht, daß der Prozeß etwas ändern kann?« fragte Hester mit schwindender Hoffnung. »Es klang vorher so.« Miss Buchan schwieg sich für einige Minuten aus. Draußen ließ der Gärtner einen Rechen fallen. Das Geräusch von Holz auf Kies wehte überlaut zum offenen Fenster hinein.
    »Vielleicht ändert sich was für Miss Alexandra«, meinte Miss Buchan zu guter Letzt. »Gebe Gott, daß es das tut, auch wenn ich nicht wüßte, wie. Aber was ändert es für das Kind? Die Vergangenheit läßt sich nicht auslöschen. Was gesehen ist, ist geschehen.«
    Hester spürte ein sonderbares Kribbeln im Kopf. Plötzlich fielen die einzelnen Steinchen des Mosaiks zusammen, unvollständig und vage noch, doch der rote Faden zur häßlichen, grauenhaften Wahrheit war nicht zu übersehen.
    »Darum will sie es uns nicht sagen«, sagte sie sehr langsam.
    »Um das Kind zu schützen.«
    »Ihnen was sagen?« Miss Buchan drehte sich zu ihr um, die Brauen verständnislos zusammengezogen.
    »Warum sie den General ermordet hat.«
    »Nein – natürlich nicht. Wie könnte sie? Aber woher wissen Sie davon? Erzählt hat es Ihnen bestimmt niemand.«
    »Ich habe es erraten.«
    »Sie wird es niemals zugeben. Gott steh ihr bei, sie glaubt tatsächlich, daß das alles war – nur der eine.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie wandte sich wieder ab. »Es gibt aber noch mehr, da bin ich absolut sicher. Ich sehe es an seinem Gesicht, an seinem Lächeln, merke es an der Lügerei, an dem Weinen, wenn er nachts im Bett liegt.« Sie sprach ganz leise; in ihrer Stimme schwang der Schmerz längst vergangener Zeiten mit. »Er fürchtet sich, und er ist aufgeregt, erwachsen und ein kleines Kind zugleich – ja, und er ist verzweifelt, furchtbar einsam, genauso wie sein Vater vor ihm, verflucht soll er sein!« Sie holte so tief und anhaltend Luft, daß ihr magerer Körper von Kopf bis Fuß darunter zu erbeben schien. »Können Sie sie retten, Miss Latterly?«
    »Ich weiß es nicht«, erwidete Hester wahrheitsgemäß. Alles Mitleid der Welt rechtfertigte nicht, in diesem Augenblick zu lügen. »Aber ich werde tun, was ich kann – das schwöre ich Ihnen.«
    Ohne ein weiteres Wort stand sie auf, verließ den Raum, machte die Tür hinter sich zu und begab sich zu den anderen kleinen Zimmern, die in diesem Flügel des Hauses lagen. Sie war auf der Suche nach Cassian.
    Sie fand ihn auf dem Gang vor seinem Schlafzimmer. Er starrte wachsam zu ihr hoch; sein Gesicht war blaß.
    »Es war vollkommen richtig, daß du Edith geholt hast, damit sie den Streit schlichtet«, stellte sie nüchtern fest. »Magst du Miss Buchan?«
    Er schwieg und hörte nicht auf zu starren, seine Augenlider schwer, seine Miene argwöhnisch und unsicher.
    »Sollen wir in dein Zimmer gehen?« schlug sie vor. Sie wußte nicht genau, wie sie das Thema anschneiden sollte, doch nichts auf der Welt konnte sie jetzt noch davon abhalten. Die Wahrheit lag in greifbarer Nähe – wenigstens dieser Teil davon.
    Wortlos drehte er sich um und öffnete die Tür. Sie folgte ihm hinein, unvermittelt von kaltem Zorn gepackt, daß die zentnerschwere Last von soviel Tragik, Schuld und Tod ausgerechnet auf den schmalen, zerbrechlichen Schultern dieses Kindes

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